zum Hauptinhalt

Premiere bei "Made in Potsdam": "Wer das bessere Fahrzeug hat, beherrscht den Raum"

Weg vom Ursprung: Das Potsdamer Choreografen-Duo Kombinat aka Paula E. Paul und Sirko Knüpfer sinnieren in ihrem neues Stück „Mein Touristenführer“ über den Wunsch aller Menschen.

Touristen fahren auf Segways durch die Stadt. Was man in Potsdam und Berlin inzwischen häufiger auf den Straßen sieht, war für Sie Aufhänger für eine musikalische Reise in die Geschichte von Wanderbewegungen. Warum gerade auf Segways?

KNÜPFER: Die bieten sich so schön an für ein theatrales Erlebnis. Man sieht den Menschen mit einem Fahrzeug, ohne dass er darin verschwindet. So kann man endlich mal über das Fahren sprechen, was ja zu unserem Leben dazugehört. Der Mensch als fahrendes Wesen. Und Segways sind auch wie mobile Ein-Personen-Bühnen. Man kann durch den Raum sausen und singen und es wirkt, als ob man ruhig steht. Gleichzeitig hat uns die Diskrepanz gereizt, die von dem Fahrzeug ausgeht. Es sind meistens Touristen, die damit fahren und als Touristen genießen wir aus dem so genannten Westen ziemliche Freizügigkeit – überall auf der Welt. Wenn man anfängt über die Geschichte der Welteroberung nachzudenken, fällt auf: Wer das bessere Fahrzeug hat, beherrscht den Raum.

Die Segways als Machtinstrument?

PAUL: Die Segways strahlen vielleicht nicht unbedingt Macht aus. Es sieht ja eher ein wenig eigenartig aus, wenn die Touristen ihrem Guide folgen, alle mit Knopf im Ohr. Er erzählt etwas und sie folgen dem, was er erzählt und was er erzählt, ist gesetzt: Wenn er vom Schloss erzählt, ist der Blick aller dort. Die Segways stehen symbolisch dafür: Wer die Technik hat, beherrscht den Raum. Bei uns sind Segways ein Luxusding, ein Freizeitartikel. In Korea benutzt es das Militär, in manchen Städten steht die Polizei oder Sanitäter drauf, um schnell von A nach B zu kommen. Es ist im Prinzip das moderne Pferd.

In Ihrem Stück geht es auch um das Nichtangekommen-Sein, um das Woandershin-wollen. Warum?

KNÜPFER: Wenn so ein neues Ding hier herumfährt, denkt man natürlich darüber nach, wie es war, als die anderen Sachen, die heute selbstverständlich sind, neu waren. Etwa die Geschichte des Fahrrads. Was gab es damals für Kommentare und Verrisse – so etwas Ordinäres zwischen den Beinen, so ein Gestell, das geht doch nicht. Da wusste man auch lange nicht, was man damit macht und irgendwann war es da. Auch mit dem Segway ist es so, dass man nicht weiß, was man davon halten soll – und das ist eigentlich die echte Begegnung mit dem Fremden. Eine Situation der Unbestimmtheit, die wir im Westen selten haben. Weil wir eigentlich immer vorne dran sind und bestimmen.

Dieser Zustand der Verunsicherung soll sich auch beim Zuschauer einstellen: Man sitzt nicht zusammen in einem separaten Zuschauerraum, sondern mittendrin.

PAUL: Man schaut nicht in eine Richtung sondern in verschiedene. Die City-Wheels – wir verwenden nicht die Fahrzeuge der Firma Segway, sondern kleinere Versionen – fahren richtig zwischen den Zuschauern durch. Wir sind nicht davon ausgegangen, dass es eine Position gibt, von der alle alles gleich gut sehen können, sondern nutzen die Mobilität des E-Rollers, lautlos und schnell überall vorbei zu kommen. Mal kommt man an dir vorbei, mal ist nur der Ton anwesend, das Bild aber nicht – oder umgekehrt. Mal trifft beides zusammen, mal fehlt beides. Und trotzdem ist dieser gemeinsame Raum für alle die ganze Zeit anwesend. Das Theatererlebnis ist ja eigentlich die gemeinsame Zeit in einem Raum, die gemeinsame Konzentration. Ob dabei jeder dasselbe im Blick hat, ist unerheblich.

Wie viel künstlerische Freiheit hat man eigentlich auf so einem Gerät?

PAUL: Es war ein Experiment für uns alle, um zu testen, was kann man damit machen. Einerseits sind die Schauspielerinnen total eingeschränkt, und in der Einschränkung muss man dann etwas finden. Andererseits ist es eine Körpererweiterung, die neue Möglichkeiten mit sich bringt. Eine endlose Pirouette etwa könnte ein Tänzer nicht alleine machen. Dann hilft wieder das Fahrzeug, Bilder zu bauen, die ich ohne das Fahrzeug nicht hätte. Es ist also beides, Einschränkung und Körpererweiterung.

KNÜPFER: Die Technologie ist so versteckt. Ich dachte zum Beispiel, dass man mehr über Balance erzählt. Plötzlich meistert die Technologie die Balance, aber man sieht es ihr nicht an. Nur wenn man drauf steht, spürt man das. Ein Mensch-Maschine-Dialog. Je ruhiger ich bin, desto ruhiger ist die Maschine. Sie nimmt all die kleinen Impulse auf und spiegelt sie nach außen, vergrößert sie.

Wer heutzutage ein Stück über Reisen, die Sehnsucht nach der Ferne macht, kann nicht nur über Touristen sprechen, sondern muss auch die Routen der Flüchtlinge miteinbeziehen. Haben Sie dieses Thema von Anfang an mitgedacht?

PAUL: Um so ein Stück auf die Beine zu stellen, braucht man zwei Jahre Vorlauf, um Gelder zu beantragen. Vor zwei Jahren stand bereits das Gerüst für das Stück und daran haben wir nichts mehr geändert. Die Flüchtlingsproblematik war natürlich da, aber die große Debatte noch nicht. Dass wir da mit unserem Stück jetzt so aktuell sind, war gar nicht beabsichtigt, damit haben wir so nicht gerechnet.

Hat das die Probenarbeit verändert?

PAUL: Wir sind nicht mit einem fertigen Libretto in die Proben gegangen, sondern wir haben ganz viele Sachen vorrecherchiert und viele Möglichkeiten gehabt. Es ist eher die Qual der Auswahl statt zu gucken, wie ändert man jetzt etwas. Denn es gibt eigentlich nichts zu ändern, weil es gerade entsteht. Wir wollten das Stück aus Zitaten zusammensetzen. Und haben dafür in der Musikgeschichte und in der Musikliteratur nach Liedtexten gesucht, die das Thema Reise oder Sehnsucht beschreiben. Das Interessante ist, dass Wanderbewegungen schon in sehr alten Liedtexten vorkommen, dass es überhaupt kein neues Thema ist. Manchmal tun wir so, als ob das jetzt eine neue Situation ist, mit der wir völlig überfordert neu umgehen müssen. Aber es ist ein Thema, was die Menschen seit je her beschäftigt, dass man von A nach B wandert, von Ost nach West, von Nord nach Süd.

KNÜPFER: Das Stück schafft es hoffentlich, sich und die Zuschauer zu öffnen für die Komplexität, die das Thema immer hatte. Wo lebe ich mein Leben? Potsdam, Berlin, in einem fremden Land? Das muss jeder für sich beantworten. Deswegen ist diese Frage auch in die Musik hineingewandert und sie wird immer wiederholt, weil sie nicht einfach zu beantworten ist. Wo du hineingeboren wirst, ist der große Zufall – und trotzdem bestimmt er so viel.

Es gibt sogar eine galaktische Ebene.

KNÜPFER: Beim Thema Reise und Flucht denkt man immer zuerst an Vertreibung. Aber es gibt ja auch die Verlockung. Der ganze Tourismus – und auch der Touristenführer lockt damit: „Ich zeig euch was Schönes. Kommt mit mir in meine Welt – eine andere Welt, eine neue Galaxie.“

PAUL: Seinen Raum zu erweitern ist normal: Erst aus dem Bauch der Mutter heraus, dann weg von der Brust in den Raum, ins ganze Haus, auf die Straße, ins nächste Dorf, eine andere Stadt, ein anderes Land, ein anderer Kontinent – und dann auf den Mond. Dieser Bewegungsradius, der sich immer weiter entfernt vom Zentrum, von dort, wo man hergekommen ist, ist ein natürlicher Impuls von uns Menschen. Dass wir immer fragen: Ist das der Platz, wo ich sein will – oder ist es dort drüben schöner, neuer, interessanter? Es ist ein Thema, das unabhängig von der Flüchtlingsdebatte da ist. Es ist ein Grundbedürfnis des Menschen, seinen Radius zu erweitern.

Das Gespräch führte Grit Weirauch

„Mein Touristenführer“ wird am heutigen Donnerstag um 19 Uhr in der Arena des Waschhaus, Schiffbauergasse, uraufgeführt. Weitere Termine: 15. Januar, 20 Uhr; 16. Januar, 21 Uhr; 22. Januar, 20 Uhr; 23. Januar, 20 Uhr und 24. Januar, 16 Uhr.

Paula E. Paul, geboren 1964, studierte klassischen Tanz in der Palucca-Schule Dresden und in Leipzig. 2009 gründete sie mit Sirko Knüpfer das Choreografie-Projekt „Kombinat“.

Sirko Knüpfer, geboren 1972, studierte an den Kunsthochschulen Halle/Saale, Glasgow und Karlsruhe. Er arbeitet als Medienkünstler für Film und Theater – und mit Paula E. Paul.

Grit Weirauch

Zur Startseite