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Potsdams literarisches Terzett: Buchmessen-Nachlese: „Der literarische Salon“

Nach jeder Buchmesse Pflicht: Der „Literarische Salon“ mit Carsten Wist und Gretel Schulze klärt, welche Neuerscheinungen lesenswert sind. Diesmal reichte der Stoff sogar bis tief nach Potsdam.

Die Buchmesse, egal ob die in Leipzig oder die in Frankfurt/Main, ist immer eines: weit weg von Potsdam. Umso schöner, dass es, seit sieben Jahren inzwischen, eine Nachlese für jede Buchmesse in Potsdam gibt. Zum sogenannten „Literarischen Salon“, einer Art literarischem Terzett, fanden sich Literaturbuchhändler Carsten Wist, Moderator Oliver Geldener und Gretel Schulze vom Kabarett Obelisk am Sonntagabend in der Reithalle des Hans Otto Theaters zusammen. Die hat übrigens, passend zum neuen Format „Stadt der Zukunft“ ein schickes Upgrade erfahren: Ein Graffito-ähnliches Wandgemälde das unaufgeregt Urbanität versprüht und eine leicht ansteigende Zuschauertribüne, auf dass auch die auf den hinteren Plätzen bestens sehen.

Welche Formen der Mitsprache wollen wir haben?

Im Zentrum – also unten vor dem Wandgemälde – ging es aber natürlich um neue Bücher, ums Lesen – und damit um das, was die Menschen derzeit so umtreibt. Damit knüpfte der inzwischen 14. Literarische Salon nahtlos an den frisch aufgegriffenen roten Faden des HOT an. Den, der zur „Stadt der Zukunft“ führen soll, einem Forum gleich der antiken Agora, in dem sich die Menschen begegnen, wo sie streiten und lachen und diskutieren, essen, trinken und sich begegnen können. Immer auf der Jagd nach Antworten: Wie soll die Zukunft, die ganz klar eine urbane sein wird – immer mehr Menschen zieht es in die Ballungszentren, die Megastädte – aussehen? Welchen Platz soll der Mensch in diesen Städten einnehmen und welchen der Markt? Welche Formen der Mitsprache wollen wir haben? Wenn man sich anguckt, wie Initiativen abgebügelt und übergangen werden, die derzeit in Potsdam um Beteiligung bitten – etwa die von „Potsdamer Mitte neu denken“ – ist es höchste Zeit für so ein Forum.

Dass sie nah an der Stadt, an den Potsdamern sind und sein wollen, zeigten die drei Leser Wist, Schulze und Geldener, indem sie auch „Skizzen eines Sommers“ von André Kubiczek unter die fünf mitgebrachten Bücher gewählt hatten. Obwohl es eigentlich keine große Literatur ist. Aber es spielt eben in Potsdam, im Jahr 1985. Es handelt vom sechzehnjährigen René, dessen Mutter tot und dessen Vater – DDR-Nomenklatura – den Sommer über in der Schweiz ist. René hat er 1000 Mark dagelassen. Damit lässt sich was anfangen: zweimal die Woche Disko, „Orion“. Mädchen beeindrucken, was man eben so macht mit 16. Kubiczek, sagt Wist, hat einen guten Sound gefunden, man erkennt Potsdam darin auf jeder Seite, auch wenn man, wie er selbst, lieber im Café Heider als im „Orion“ war.

Eintauchen in den heißen Sommer ´85

Bernd Geiling, Ensemble-Schauspieler am HOT, der am Sonntagabend für die Leseproben zuständig war, lässt einen kurz eintauchen, in diesen heißen Sommer 85. Das sind überhaupt die schönsten Momente des Abends, weil Gerling für jeden Text den genau richtigen Ton trifft. Jetzt eben den herablassenden eines Sechzehnjährigen, der gerade Baudelaire entdeckt und seinen Wortschatz mächtig aufmöbliert hat: Wer im früher auf die Ketten ging, ist jetzt impertinent, seine abstehenden Ohren kaschiert er, statt sie mit seinen Haaren zu verdecken. Und er lacht über diesen Staat, der Sartres „Ekel“ wie auch Baudelaire und Rimbaud für dekadent hält. Wie sie ihn, René, und seine Kumpels auch für dekadent halten, als sie in Anzügen und mit falschen Diamantbroschen in der Schule aufschlagen. Wie sie auch abstrakte Kunst für dekadent halten, „bloß weil keine Arbeiter darauf zu erkennen sind“. Mit dem ganzen Scharfsinn eines Teenagers sinniert er darüber, dass es ja auch besser klingt zu sagen: „das und das verdirbt unsere Jugend“, statt: „tut uns leid, Leute. Wir würden ja gerne, aber uns ist bedauerlicherweise mal wieder das Papier ausgegangen.“

Man kann dieses Buch natürlich lesen wie Maxim Biller, der es im „Literarischen Quartett“ (ZDF) im September fürchterlich verrissen hat. Warum, fragte er, muss man immer noch diese „es war eigentlich doch ganz nett in der Diktatur“-Bücher schreiben, und dann auch noch so ohne Tiefe, ohne größere Zusammenhänge. Oder man kann es – und das haben Carsten Wist und Gretel Schulze getan – als Erinnerungs- und Coming-of-Age-Roman lesen. Dann funktioniert es ziemlich gut, so ihr Fazit. „Es ist nicht statthaft, den Leuten ihre Erinnerungen abzusprechen, ihnen abzusprechen, dass sie auch unter widrigen politischen Umständen glücklich waren“, sagt Schulze. Ob nicht genau das gerade mit der Schleifung der DDR-Architektur - „Skizzen eines Sommers“ spielt übrigens vornehmlich in den Plattenbausiedlungen - in Potsdam passiert, darüber hätte man am Sonntag auch gerne noch streiten mögen.

Kunst soll beunruhigen

Das war aber leider so ein bisschen ein Nachteil der Drei am Sonntagabend: Sie waren sich zu oft zu einig. Streit wäre schöner gewesen, dazu kam es aber nur bei Han Kangs Buch „Die Vegetarierin“. „Es gruselt mich, es ekelt mich - aber es geht mich nichts an“, so Schulze zu der Geschichte um eine junge Frau, die erst aufhört, Fleisch zu essen und am Ende gerne ein Baum werden möchte. Dass ihr Satz ein Paradoxon war - was einen derart aufwühlt und ekelt, geht einen sehr offensichtlich sehr wohl etwas an – blieb undiskutiert. Wist war sowieso anderer Meinung. Auch ihn hat „Die Vegetarierin“ beunruhigt. Aber er lehnt es deshalb nicht ab. Warum auch. Kunst soll ja nicht langweilen – sie soll beunruhigen.

Überraschend einig waren sich dafür alle beim Ober-Schwurbler Peter Sloterdijk, der, ganz in Altherren-Manier, mit „Das Schelling-Projekt“ einen Roman über eine Gruppe älterer Wissenschaftler geschrieben hat, die, na klar, den weiblichen Orgasmus erforschen wollen. „Erst dachte ich: Was soll denn diese Art von Onanie, von Altherrenwitz“, so Wist. Dann aber habe er sich bemüht, es ironisch zu lesen – und siehe da, es hat geklappt. Nun ja. Die Frage, wie originell es derzeit noch ist, auf dem vielbeschriebenen weiblichen Orgasmus rumzureiten, blieb beim „Höhepunkt des Abends“ (O-Ton Geldener – ­höhö) offen.

Manches Spannende wurde nur gestreift, etwa, dass sich hinter Elena Ferrante, Autorin von „Meine geniale Freundin“ die italienische Christa-Wolff-Übersetzerin verbirgt und dass mit „Hool“ von Philipp Winkler endlich mal ein deutscher – statt immer wie sonst oft ein britischer – Roman eintaucht in eine völlig andere Welt, die die Normalbürger immer nur streift, wenn es bei Fußballspielen mal wieder richtig kracht. Eine Welt, die trotzdem jeder verstehen kann, weil ein bisschen Hool eben doch in jedem Heranwachsenden, vielleicht in jedem von uns steckt. Die kurze Szene, kurz vor dem Spiel, als sich die Gewalt im Auto schon hochschaukelt, war – von Geiling grandios im gehetzten Fußball-Kommentatoren-Ton vorgelesen – ein schöner Abschluss für einen Abend, an dem es am Ende neben der Literatur auch darum ging: als Lesende und Gesellschaft nicht nebeneinander her zu leben, sondern genauer aufeinander zu achten.

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