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Potsdamer Theaterpreis 2022 verliehen: Die Samtene und der Sanfte

Nadine Nollau und Paul Wilms wurden vom Förderkreis des Hans Otto Theaters mit dem Potsdamer Theaterpreis ausgezeichnet. Erstmals gab es auch einen Publikumspreis.

Potsdam - Nadine Nollau gehört zu den Schauspielerinnen, die man immer erkennen wird – selbst dann, wenn man sie nicht erkennt. In der Ibsen-Bearbeitung „Stützen der Gesellschaft“ trägt sie als Lona eine fransige dunkle Perücke, die Augen teilweise hinter einer Sonnenbrille versteckt. Bevor sie bei ihrem ersten Auftritt spricht, singt sie. Und zwar Patty Smith: „Jesus died for somebody‘s sins but not mine“. 

Wer ist diese Frau, die Lona spielt? Als das dunkle Timbre sich den Saal erobert, dem Publikum eine Gänsehaut nach der anderen über den Rücken jagt, ist die Ahnung längst da, Gewissheit gibt es erst, als Lona die ersten Sätze sagt. Nadine Nollaus Stimme ist unverkennbar und umso schwerer zu beschreiben: wie eine Verbindung in eine andere Welt. Tiefer, abgründiger, als alle anderen weiblichen Stimmen im Ensemble.

Der Preis soll wieder alle zwei Jahre vergeben werden

Dafür hat Nadine Nollau am Samstag den Potsdamer Theaterpreis erhalten – den ersten, der vom neu aufgestellten Förderkreis des Hans Otto Theaters unter der Intendanz von Bettina Jahnke vergeben wurde. Zur Jury gehörten neben der früheren Theaterfotografin Christine Gruchot sowie der Vereinsvorsitzenden Katja Dietrich-Kröck die Vorstandsmitglieder Wilhelm Neufeldt, Jochim Sedemund und Petra Bläss sowie Intendantin Bettina Jahnke und Journalistin Sarah Kugler.

Künftig soll der mit 3000 Euro dotierte Preis wieder alle zwei Jahre vergeben werden. Im Rahmen eines Festaktes von der Jury ausgezeichnet wurde ebenfalls der Schauspieler Paul Wilms – und, ein Novum in der Geschichte des Theaterpreises, eine von 590 Zuschauer:innen gekürte Inszenierung: Der Publikumspreis ging an das Musical „Cabaret“ von Joe Masteroff, Fred Ebb und John Kander.

Eine Stimme aus Samt: Selten war das so wahr wie hier

Über Nadine Nollau hieß es von der Jury: „Ihr Spiel scheint aus einem inneren Raum zu kommen, in dem sie Gefühle so lange braut, bis sie bereit ist, sie nach außen zu bringen“. Auch die Jury führt „Die Stützen der Gesellschaft“ mit ins Feld: Nollaus Lona sei zwar „eine laute Rockerin, die ihre Wut herausbrüllt und -singt“, doch die „wirklichen, verletzlichen Gefühle der Figur spielt sie leise“. Es fällt in der Laudatio angesichts der Tatsache, das Nadine Nollaus Stimme eine ist, von der man sich gerne ganz und gar einfangen und umfangen lässt, auch der etwas abgegriffene Begriff: Sie habe eine Stimme aus Samt. Selten war das so wahr wie hier.

Als Nadine Nollau, geboren 1981 in Berlin, nach einigen Stationen 2018 mit Bettina Jahnke nach Potsdam kam, schrieb sie als Antwort auf die Frage nach dem besten Satz, den sie bisher auf einer Bühne sagen durfte: „Man sollte sich hüten der Richter eines Anderen zu sein, das ist ’ne kreuzgefährliche Sache, das kann ganz schnell in Selbstherrlichkeit ausarten.“ 

Jede Silbe sitzt, kein Atmer dem Zufall überlassen

Es war der Satz einer Domina aus einem Dokumentartheaterabend namens „Rotlicht“. Seit ihrem Potsdamer Engagement dürften viele andere Kandidaten dazugekommen sein. Sie war die Lady Milford in „Kabale und Liebe“, war Margaret in „Die Katze auf dem heißen Blechdach“ (der ersten Regie von Schauspielerin Steffi Kühnert). War in „Diener zweier Herren“ mit wunderschön gezwirbeltem Schnurrbärtchen Beatrice, eine Hosenrolle.

Natürlich kann Nadine Nollau den stolzen Jüngling ebenso geben wie die in Liebe entbrannte Frau. Wie uninteressant diese strickte Unterscheidung ist, und wie selbstverständlich Nadine Nollau im Spiel nicht nur zwischen Geschlechtern, sondern auch zwischen Lebensaltern und gesellschaftlichen Schichten wandelt, zeigte sich in Kleists „Kohlhaas“, wo sie einerseits den gedemütigten Knecht Herse spielt, andererseits den mächtigen Grafen von Wrede. Dass das Stück über lange Zeit vor allem ein Hörstück ist, könnte bei anderen Darsteller:innen ein Problem sein, für Nadine Nollau ist es das Gegenteil. Hörstücke leben von Stimmen wie ihren: wo jede Silbe sitzt, kein Atmer dem Zufall überlassen ist.  

Nadine Nollau, Jahrgang 1981, ist seit der Spielzeit 2018/19 Mitglied im Ensemble des Hans Otto Theaters Potsdam.
Nadine Nollau, Jahrgang 1981, ist seit der Spielzeit 2018/19 Mitglied im Ensemble des Hans Otto Theaters Potsdam.

© Andreas Klaer

Lieber einen Deut zu leise als zu laut

Auch Paul Wilms, geboren 1993 im nordrhein-westfälischen Herdecke, hat seit seiner Ankunft im Potsdamer Ensemble zu Beginn der Spielzeit 2019/20 viel zeigen dürfen. Anders als Nadine Nollau ist Wilms einer, der sich eher über die mal schlacksige, mal geschmeidige Körperlichkeit einprägt – und womöglich auch erst auf den zweiten Blick. Was wiederum eine vom Wilms' größten Stärken ist: Hier fasst einer Hauptrollen und Nebenrollen mit der gleichen Zartheit an. 

Paul Wilms ist keine „Rampensau“, selbst wenn seine Rollen es hergeben würden (wie der Latin-Lover-Verwandte Valère in Molières „Der Geizige“, zurzeit auf der Seebühne zu sehen). Er ist lieber einen Deut zu leise als zu laut, scheint noch in der größten Kraftmeierei auch ein wenig mit sich zu hadern. Wer das angesichts potenziell krawalliger Rollen wie dem Protagonisten in Jaroslav Rudis‘ „Nationalstraße“, dem jungen Verliebten Eitan in Wajdi Mouawads „Vögel“ oder dem Tempelritter Kurt in „Nathans Kinder“ schafft, dem unterläuft das nicht, der macht aus der Zartheit eine Setzung. So einen als Jury in Zeiten nach wie vor omnipräsenter toxischer Männlichkeit auszuzeichnen – auch das kann man nur begrüßen.

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