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Paula Fürstenberg, geboren 1987 in Potsdam. Jetzt lebt sie in Berlin.

© Joachim Gern

Potsdamer Autorin Paula Fürstenberg im Interview: „Und dazwischen war ich verloren“

Die Potsdamer Autorin Paula Fürstenberg spricht im PNN-Interview über ihren Debütroman „Familie der geflügelten Tiger“.

In Paula Fürstenbergs Debütroman, „Familie der geflügelten Tiger“, versucht die Hauptfigur Johanna die Wahrheit über ihren erst abwesenden, dann sterbenden Vater herauszufinden. Kurz vor der Wende ist er von Frau und kleiner Tochter abgehauen und meldet sich erst wieder aus West-Berlin. Johanna versucht im Erwachsenenalter, sein Leben und die Gründe für sein Verschwinden zu rekonstruieren. Bevor sie an seine Stasiakten herankommen könnte, erfindet sie sie.

Frau Fürstenberg, Stasiakten sind für Sie Material, mit dem Sie literarisch spielen. Die eigentliche Akte ihres Vaters wird die Hauptfigur Johanna gar nicht zu Gesicht bekommen. Beim Lesen hat mich das ehrlich gesagt empört.

Das freut mich. Das ist eine eher seltene Reaktion. Ich habe in der Schweiz angefangen, an dem Buch zu arbeiten und war viel von Schweizern und Westdeutschen am Literaturinstitut umgeben, ich war die einzige ostdeutsch Sozialisierte. Es gab wenig Berührungsängste oder Empörung. Die Wahrnehmung hängt bei dem Buch sehr davon ab, welche Geschichte man selber hat, wie viel man über die Akten weiß, ob man westdeutsch oder ostdeutsch sozialisiert ist, ob man aus einer Familie kommt, die eher ein angepasstes Leben geführt hat oder eher ein widerständiges, die sehr zu leiden hatte unter dem System. Je nachdem, was man mitbringt, sind die Reaktionen darauf verschieden.

Es scheint auch eine Generationenfrage zu sein. Sie sind 1987 geboren und können so leichter mit Stasiakten „jonglieren“ als ältere Autoren.

 Das hat mit Sicherheit damit zu tun, dass ich die Beklemmungen selber gar nicht kenne, unter Bewachung zu stehen, mit so einem System umzugehen. Die kenne ich eben nur aus Erzählungen und aus Büchern und es kann gut sein, dass ich dadurch einen freieren Zugang habe.

Warum haben Sie gerade die Stasiakten als literarisches Material verwendet?

Ganz am Anfang stand eine große Faszination für diese Akten, für dieses Material. Es ist natürlich Geheimdienstmaterial und wow, man darf da reingucken, was man ja sonst eher nicht darf. Ich habe viel recherchiert in der Stasiunterlagen-Behörde Frankfurt (Oder), habe Akten gelesen, mit Mitarbeitern gesprochen. Dabei wurde das für mich zum Material, was die Sprache ist, was einen eigenen Tonfall hat, was Vorstellungen auslöst und einfach auch Geschichten erzählt auf unterschiedlichste Art und Weise: tragische, komische, schreckliche, schöne.

Die Akten als ein großer Sprachfundus?

Erst mal war es Sprachmaterial. Wobei das extrem schwierig zu bearbeiten war.

Inwiefern?

Man hat eine Vorstellung davon, wie eine behördliche Akte aussehen müsste, geschrieben ist. Und dann sitzt man vor diesen Akten und hat etwas vollkommen anderes vor sich. Eben weil die Inoffiziellen Mitarbeiter irgendwelche Leute aus der Nachbarschaft waren. Das ist voll von Fehlern, von Beobachtungen, von Stilblüten, von skurrilen Geschichten, von scheinbar Banalem. Die Akten waren für mich viel seltsamer, als ich sie mir vorgestellt hatte. Damit umzugehen war ziemlich schwierig, weil die Akten im Buch ja auch immer freier werden, immer absurder. Wahrscheinlich sind sie im Ton aber näher an der Realität, als man das beim Lesen vermutlich meint.

Die Figur Karl fragt an einer Stelle im Buch Johanna: „Ist es denn überhaupt so wichtig zu wissen, was passiert ist?“ Ist das für Sie so – dass es nicht so wichtig ist, zu wissen, was war, sondern stattdessen identifiziert man sich mit dem Erzählten?

Ich glaube schon, dass das irgendwie stimmt. Jeder Mensch ist hineingeboren in eine Welt, die vor ihm schon da war, die er sich erschließen muss, von der er Geschichten hört. Und diese Geschichten sind erst mal Geschichten. Ich meine zu beobachten, dass man sehr viel stärker in den alltäglichen Geschichten lebt als in historischen Wahrheiten. Und ich glaube schon, dass diese sehr identitätsbildend sind. Bei der Hauptfigur ist das so in Bezug auf den Vater und in Bezug auf dieses Land, das sie eben nicht kennt. Und von dem sie nur merkt, dass sie in irgendeiner Form davon geprägt ist, sowohl vom Vater in seiner Abwesenheit als auch vom Land in seiner Abwesenheit. Eigentlich ist Johanna von einem Loch, von einer Leerstelle geprägt, die sie zu füllen versucht.

Dieses Loch – auch das scheint ein Phänomen dieser Generation zu sein. Ist das etwas, was Sie selbst erlebt haben?

Ja, schon. Diese Leerstelle der DDR, die natürlich eine Leerstelle voller Bruchstücke und Anekdoten ist, die aus der Familie kommen, aus der Schule, aus dem Stadtbild, aus Museen. Die aber für mich sehr stark angefangen haben sich zu reiben, eigentlich erst dann problematisch zu werden, als ich aus Potsdam weggegangen bin. Solange ich in Potsdam gelebt habe und groß geworden bin, war das eben so. Erst in Frankreich und in der Schweiz habe ich gemerkt, dass da Redebedarf bestehen könnte.

Redebedarf worüber?

Redebedarf darüber, was die eigene Verortung innerhalb dieser Geschichten ist – was die noch mit mir zu tun haben, und was nicht. Was mich prägt, was ich annehmen oder vielleicht ablehnen möchte. Erst über den Kontakt mit dem „Fremden“ wurde mir klar, wie viel das noch mit mir zu tun hat. Weil Menschen fragen: „Du kommst doch aus dem ehemaligen Osten?“

Auch 26 Jahre nach der Wiedervereinigung?

Ja, klar. Ich wurde in Frankreich und der Schweiz permanent konfrontiert mit Vorurteilen, Halbwissen. Das Erschrecken war ein doppeltes: Wie wenig andere wissen und wie wenig ich selbst beantworten kann – obwohl das doch angeblich eine Heimat sein sollte, meine Herkunft, ich mich auskennen sollte und mich aber nicht auskenne. Und dann auch wieder nach Hause zu kommen und die Familie sitzt um den Tisch und ich sage irgendetwas dazu und es heißt: „Ach, du warst doch nicht dabei, du hast doch keine Ahnung“. Aber sobald ich in der Schweiz und in Frankreich bin, bin ich die Expertin. Und dazwischen war ich verloren.

In der Ost-West-Geschichte fehlt Ihnen sozusagen die Verortung. Gibt es diese aber in Potsdam?

Die gibt es sehr stark. Da hängen 18 Jahre Kindheit und Jugend dran. Es gibt keine Stadt, in der ich mich so gut auskenne, in der ich alle Straßennamen kenne, mich ohne Karte bewegen kann. Und trotzdem war es verrückt, über die Jahre zu merken, was sich da verändert. Dass da plötzlich ein Stadtschloss steht, Straßen neu gebaut werden, bestimmte Bezirke aus dem Boden schießen. Aber das habe ich immer so aus der Distanz wahrgenommen.

In Ihrem Buch kommen Stadtpläne, Landkarten, Staßenbahnpläne vor, sogar eine Weltkarte. Haben Sie ein Faible für Kartografie?

Eigentlich nicht. Ich hatte nie ein besonderes Faible für Karten. Das kam aus ganz pragmatischen Orientierungsgründen. Ich habe in der Schweiz gesessen und an einem Text geschrieben, der in Berlin spielt. Bis dahin hatte ich ja nie in Berlin gelebt und kannte die Stadt gar nicht so gut. Ich hatte mir zwei Karten von Berlin über den Schreibtisch gehängt, eine von heute und eine von kurz vor der Wende, mit den Grenzverläufen. Die hingen da als Recherchematerial. Außerdem habe ich im Internet immer Lokalradio gehört, Radio Eins, und immer gewusst, wo gerade Stau ist in Potsdam. Das weniger für den Roman, mehr für mich, um ein Stück Heimat zu haben. Und also waren da immer diese Karten, die ich eigentlich für die Arbeit gebraucht habe, um geografisch überhaupt den Zugang über die Distanz herstellen zu können. Und dann hatte ich diese verlorene Figur, die nicht weiß, wo ihr Platz ist auf der Welt, zu der dann die Karten sehr gepasst haben als Verortung, als bebaubare Welt, die sie sich herzustellen versucht.

Sogar die mittelalterliche Ebstorfer Weltkarte spielt eine Rolle. Was hat Sie daran so fasziniert?

Das war im Grunde als Karte das, was ich erzählen wollte. Was kann man machen mit Leerstellen, über die man nichts weiß und vielleicht nie wieder etwas herausfinden kann? Diese mittelalterlichen Mönche haben darauf eine präzise Antwort gefunden, die ich sehr schön fand: Sie haben Fabelwesen gemalt an die Stellen, die sie nicht kannten. Und damit etwas sehr Wahres getan. Ich glaube, wenn man eine Stelle nicht kennt, wenn es beispielsweise hier in der Umgebung eine Insel gäbe, von der niemand wüsste, was da ist, die nicht erschlossen ist. Dann kann man das auf der Karte weiß malen und „Terra incognita“ hinschreiben, das ist auch ehrlich. Und trotzdem glaube ich, dass jeder, der von der Insel weiß, eine Vorstellung von ihr hätte. Man kommt gar nicht darum herum, irgendetwas aus der Fantasie an diese Stelle zu pflanzen. Das passiert einfach, ob man will oder nicht. Man kann wissen, das ist nur Fantasie, aber irgendetwas ist da trotzdem.

Das Interview führte Grit Weirauch

ZUR PERSON: Paula Fürstenberg, Jahrgang 1987, wuchs in Potsdam auf. Nach einem zweijährigen Aufenthalt in Frankreich studierte sie von 2008 bis 2011 am Schweizerischen Literaturinstitut in Biel. Seither lebt, schreibt und studiert sie in Berlin. 2014 war sie Stipendiatin der Autorenwerkstatt am Literarischen Colloquium Berlin. „Familie der geflügelten Tiger“ ist ihr erster Roman. Er ist bei Kiepenheuer & Witsch erschienen.

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