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Schloss Rheinsberg im Frühherbst. Grit Poppe war hier von Februar bis Ende Juni Stadtschreiberin. 

© Bernd Settnik/dpa

Potsdamer Autorin Grit Poppe Stadtschreiberin in Rheinsberg: Neue Heimat

Die Potsdamer Autorin Grit Poppe („Joki und die Wölfe“) war fünf Monate Stadtschreiberin in Rheinsberg. Dort entstand das Büchlein „Rheinsberger Risse“: Beobachtungen und Reflexionen – auch zum fernen Potsdam, wo Poppe in der Flüchtlingshilfe aktiv ist. Ein Auszug.

Ab und zu fahre ich auch nach Potsdam, nach Hause also: Wenn eine Lesung ansteht oder als die Buchpremiere von „Joki und die Wölfe“ stattfindet. Auf meinem Handy finden sich Kinderstimmen, Sprachnachrichten von Sara und Ahmed: „Wie geht es dir? Wann kommst du? Wir vermissen dich.“ Dann besuche ich auch die Familie, die aus der Nähe von Damaskus nach Deutschland geflohen ist. Der Vater Mohammed wollte nicht in Assads Armee, sich nicht an dem Krieg beteiligen, keine Schuld auf sich laden – nur allzu verständlich, finde ich.

Es dauert Monate, ehe sie mir überhaupt etwas von ihrer Flucht erzählen, Einzelheiten, Bruchstücke, etwa von der Panik auf dem überfüllten Boot, als es zu kentern drohte. Ich bin froh, dass die fröhlichen, lebenslustigen Kinder und ihre Eltern in Sicherheit sind. Nihad, die Mutter, ist sehr ehrgeizig, sie lernt Tag und Nacht für die B2-Prüfung. Mohammed sucht dringend nach einem Job, bisher vergeblich. Vor meinem Rheinsberg-Aufenthalt war ich jede Woche einmal bei ihnen im Kirchsteigfeld, in der Zweiraumwohnung, die für vier Menschen viel zu klein ist. Es gab immer irgendwelche Formulare auszufüllen, Probleme, Verständnisfragen, Hausaufgaben – und natürlich wollten die Kinder, dass ich mit ihnen spiele: Memory, Karten, Halli Galli oder sie sangen mir ihre neuesten deutschen Lieder aus der Schule vor und sagten mir ganz stolz Gedichte auf.

Den gesellschaftlichen Umbruch begleiten 

Kennengelernt haben wir uns im Flüchtlingsheim auf dem Brauhausberg. In die Flüchtlingshilfe bin ich ursprünglich durch meinen Sohn „gerutscht“ – er wollte helfen, Kleidung austeilen, damals noch in der Erstaufnahme in der Heinrich-Mann-Allee. Ich war neugierig und begleitete ihn. Mir war klar, dass mit dem Flüchtlingsstrom – nach den Ereignissen von 1989 – der nächste gesellschaftliche Umbruch anstand und ich wollte wieder dabei sein, wissen, was passiert, mich einmischen in die eigenen Angelegenheiten.

Bei einem Abendspaziergang durch Rheinsberg fällt mir ein Haus in der Seestraße auf, in dem Leute tanzen, Walzer wohl, ich will nicht durch die Scheiben starren wie eine Spannerin.

Stattdessen schaue ich mir die Aushänge am Eingang an: Ein deutsch-arabisches Kindermusiktheater trifft sich immer samstags. Ich bin neugierig und gehe hin.

In der alten Heimat blieben Großmütter und Tanten zurück  

„Heimaten“ heißt das Stück, für das geprobt werden soll. Ein Wort, das es eigentlich nicht gibt, doch es wird schnell klar, dass die Mädchen, die alle aus Tschetschenien stammen, Rheinsberg schon als neue Heimat betrachten. In der alten Heimat blieben Großmütter und Tanten zurück, die vermisst werden. Die Mädchen kennen sich, es ist nicht das erste Stück, das unter der Leitung von Prof. Dr. Ulrike Liedtke, die auch SPD-Landtagsabgeordnete ist, entsteht.

Genaugenommen ist das deutsch-arabische Theater weder deutsch noch arabisch, denn die syrischen Kinder, die einmal dabei gewesen waren, leben heute in Nordrhein-Westfalen und die deutschen Jugendlichen haben aus unterschiedlichen Gründen die Gruppe verlassen, manche, weil sie auf das Gymnasium in Neuruppin wechselten. Dafür proben beim Ballett auch deutsche Kinder mit, ein arabischer Musiker ist bei der Aufführung mit von der Partie.

Die Tschetschenen sind nicht besonders beliebt in Rheinsberg, es gab Probleme, eine Familie fiel immer wieder auf, die Kinder machten Ärger in der Schule, sodass sie schließlich abgeschoben wurden – allerdings nicht in ihr Heimatland, sondern nach Wittstock, wo sie – so klingt es zumindest an – weiter Probleme machen.

Was die Mädchen werden wollen: Ärztin, Krankenschwester, Busfahrerin

Die Mädchen wirken munter, fröhlich, sprechen schon gut Deutsch und lassen sich auf die Vorgaben bereitwillig ein, beantworten Fragen nach Lieblingsessen und Lieblingstier – Spaghetti mit Tomatensoße und Katzen sind die Favoriten – da unterscheiden sie sich nicht von deutschen Kindern. Anders sind sicher ihre Geschichten, die Mentalität, auch die Ungleichbehandlung von Jungen und Mädchen in den Familien. Die Mädchen spielen Szenen, in denen dargestellt wird, was sie einmal werden möchten: Ärztin, Krankenschwester oder Busfahrerin. Dann wieder schieben sie Kinderwagen durch die Gegend. Oft müssen sich die Älteren um die vielen jüngeren Geschwister kümmern, erklärt Ulrike Liedtke. Die Sorge ist ihr anzumerken. Dass die Zehn-, Elf-, Zwölfjährigen den Haushalt schmeißen, einkaufen, kochen, sich um die Kleinen kümmern und oft auch für die Großen übersetzen müssen, ist eine Überforderung, die auf die Bühne soll – in lustiger Form allerdings. Verstehen die Mädchen, was sie darstellen?

Die Jungen, die eigentlich mitspielen sollen, glänzen an diesem Tag durch Abwesenheit.

Richtig Stimmung kommt auf, als die Mädchen anfangen zu trommeln. Zwei der Älteren am Schlagzeug, alle anderen trommeln auf große Gummibälle ein. Immer schneller wirbeln die Stöcke durch die Luft. Die Kinder toben sich aus, bleiben aber im Takt dabei. Ein wildes Konzert in der neuen Heimat.

— Grit Poppe:

Rheinsberger Risse.

Rheinsberger Bogen 47, hg. vom Kurt Tucholsky Literaturmuseum, 2018. Erhältlich im Museum.

16 Seiten, 4 Euro.

Grit Poppe

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