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Preußenfarce. Tina Schorcht und Amal Keller in „europa verteidigen“. Foto: Th. M. Jauk

© Thomas M. Jauk

Potsdam-Premiere von „europa verteidigen“ im HOT: Theater mit Schlussappell

Konstantin Küsperts „europa verteidigen“ feierte Premiere in der Reithalle des Hans Otto Theaters. Das Stück schlängelte sich mit großartigen Darstellern revuehaft durch den Abend. 

Potsdam - Konstantin Küspert ist ein Autor mit Sendungsbewusstsein. Das ist keine journalistische, womöglich irgendwie verleumdend gemeinte Behauptung, sondern etwas, das Konstantin Küspert über sich selbst ganz ohne Scheu sagt. So geschehen im Rahmen der Mülheimer Theatertage, einer der wichtigsten Veranstaltungen für zeitgenössische Dramatiker. Konstantin Küspert gewann dort 2017 für „europa verteidigen“ den Publikumspreis.

Am Donnerstag hatte das Stück in der Reithalle des Hans Otto Theaters Premiere. Es zeigte, dass Küspert, der auch Dramaturg ist, völlig richtig liegt mit seiner Selbstbeschreibung: „europa verteidigen“ glüht vor Sendungsbewusstsein. Für ein gerechteres, besseres Europa! Aber wozu paraphrasieren, es steht alles im Stück: Wir müssten „verantwortung übernehmen“, sagt ein Sprecher namens Konstantin kurz vor Schluss, „für eine schönere stadt, ein offeneres land, ein vereintes europa und eine gerechtere welt. mit demut der großen gnade bewusst werden, dass wir heute hier leben können, ohne krieg, ohne hunger, ohne angst.“

Großartig gesungen, getanzt, gebrüllt

Ja! Dagegen ist nichts zu sagen, und vielleicht macht „europa verteidigen“ deshalb etwas sprachlos. Wer wollte etwas gegen mehr Gerechtigkeit, mehr Verantwortungsbewusstsein sagen? Niemand, oder erfahrungsgemäß niemand, der Lebenszeit für einen Theaterabend hergibt. Aber gegen Appelle, und das ist der Schluss, ließe sich einiges sagen – auch wenn sie, wie das Küspert so klug in seinem Text macht, in die indirekte Rede geschoben sind, weg vom Publikum, von den Schauspielern, die den Text hersagen. Appelle wollen ein Ja, sie wollen keine Widerrede. Theater will ja oft das Gegenteil. Will Austausch, Unfertigkeit.

In der Potsdamer Inszenierung von Angelika Zacek stehen beim großen Schlussappell die neun Studierenden der Filmuniversität Babelsberg nebeneinander aufgereiht in der Bühnenmitte. Da haben sie sich knapp zwei Stunden durch die Geschichtsfetzen von Konstantin Küsperts Text gekämpft, gesungen, getanzt, gebrüllt. Sie, erstmals gemeinsam auf einer Bühne, haben das großartig gemacht.

Zwei römische Legionäre singen: „I will survive“

Die Regie hat ihnen den ganz großen Blumenstrauß an Theatermitteln mit auf den Weg gegeben: Es gibt punktgenau gespielten Slapstick. Es gibt einen herrlichen Running Gag, in dem zwei römische Legionäre „I will survive“ singen, kurz bevor sie abgeschlachtet werden. Es gibt live gefilmte Video-Passagen, hübsch choreografierte Tanzeinlagen, die nebenbei die Umbauten auf der Bühne mit erledigen. Es gibt komödiantisch überhöhte Szenen mit Wikinger-Schnurrbärten, die, von einer Pickelhaube ergänzt, nahtlos in den Wilhelminismus kippen können. Es gibt eine schockierende Vergewaltigungsszene (der mythischen Europa), als erschütternder Gangbang inszeniert. Es gibt live gezupfte Gitarrenmusik, punktgenau sitzende chorische Passagen.

Hier wachsen Talente heran

Und es gibt den Raum für einzelne Großauftritte, die ahnen lassen, was hier – im dritten Studienjahr – für Talente am Heranwachsen sind. Fred Costea als Scipio etwa, der Hannibal-Besieger, legt einen mächtigen Rechtfertigungsmonolog hin: Denn das befriedete Rom will von dem blutigen Heerführer nichts mehr wissen. „euer schreckgespenst, die afrikaner, werden zurückkommen“, brüllt er stimmgewaltig. „und dann werdet ihr wieder nach grimmigen männern wie mir rufen, männern mit blut an den händen, und nach feuer und stahl.“

Einer von diesen Männern ist, fast zwei Jahrtausende später, Lothar von Trotha, gespielt von einer zweiten Entdeckung des Abends: Tina Schorcht. Trotha „verteidigte“ Anfang des 20. Jahrhunderts auf afrikanischem Boden deutsche Interessen aufs Grausamste – im Kampf gegen die Herero. So schlängelt sich der Abend revuehaft vom Europa-Mythos über die römische Antike und das Preußentum bis in die nahe Zukunft, die bei Küspert auf einem Frontex-Schiff vor Kreta spielt: Ein erspähtes Flüchtlingsboot wird kurzerhand durch Schüsse versenkt. Danach wird zum Schlussappell angetreten. Es gibt Pointen, die kann man nur zerreden. 

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