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Das Lolitamädchen Iris (Juliane Götz) ist nur ein künstlicher Avatar. Ihr Erschaffer Mister Sims (Michael Schrodt) ist trotzdem verrückt nach ihr.

© Göran Gnaudschun

Potsdam Premiere im Hans Otto Theater: Virtueller Abgrund

Das Theaterstück „Die Netzwelt“ konfrontiert mit einer Welt ohne Grenzen – und ohne Moral

Von Sarah Kugler

Zwei Körper liegen übereinander. Beide in der gleichen Position, der eine ist eine Schablone des anderen. Ein Spiegelbild, ein Schatten. Doch immer nur einer kann agieren, während der andere regungslos bleibt. Die Identitäten fließen von einem zum anderen. Der Körper, das Gesicht, ja sogar das Geschlecht wechseln. Doch es bleibt ein gemeinsamer Nenner: das Selbst. Die Quintessenz des individuellen Seins. Die Suche nach ihr bestimmt die Figuren im Stück „Die Netzwelt“, das am Freitagabend in der Reithalle des Hans Otto Theaters Premiere feierte. Die Suche und die Frage, ob sie immer den moralischen Ansprüchen der Gesellschaft genügen kann oder muss.

Der Weg, den die Suchenden dabei gehen müssen, ist düster und teilweise unerträglich mit anzusehen. Jedoch so brillant von Regisseur Alexander Nerlich inszeniert, dass sich eine Sogwirkung einstellt, der es sich zu entziehen schwer fällt.

Eine Zukunft der virtuellen Welt

„Die Netzwelt“ spielt in einer undefinierten Zukunft, in der es möglich ist, virtuelle Welten zu besuchen, in der sich die Menschen als Avatare an ein System anschließen. Ähnlich wie in heutigen Computerspielen schlüpfen sie in beliebige Rollen, mit dem Unterschied, dass sie alle Ereignisse so erleben und fühlen, als wäre es die Realität. Ein Ort namens Refugium bietet dabei eine Welt, in der moralische Fragen abgestreift, Gewalt- und Sexfantasien ausgelebt werden können. Besucht wird sie vom sentimentalen Mister Woodnut (Friedemann Eckert) und dem Realitätsflüchtling Mister Doyle (Bernd Geiling). Beide sind besessen von der puppenhaften Schönheit Iris (Juliane Götz), deren naivem Lolitacharme sie vollkommen verfallen sind. Genauso wie Mister Sims (Michael Schrodt), der Erfinder des Refugiums. Von allen Papa genannt geht er selbst in dieser Welt seinen pädophilen Neigungen nach – er missbraucht Avatar-Kinder. Er verteidigt sich damit, dass er so die realen Kinder schützen würde. Agentin Morris (Zora Klostermann) sieht das anders und ist seiner wahren Identität auf der Spur. Bald erkennt sie aber, dass die virtuelle Welt komplexer ist als angenommen.

Ein klaustrophobisches Bühnenbild

Nerlich inszeniert das Theaterstück von Jennifer Haley als düsteres Kammerspiel. Die Handlung findet abwechselnd in einem Verhörraum und im Refugium statt. Der Übergang von der realen in die virtuelle Welt gelingt dank des Bühnenbildes von Wolfgang Menardi mühelos. Drehbare Wände wandeln den Spielort von einem kargen Raum mit Fliesengittern zu einem barock-märchenhaften Zimmer. Durch den statisch bleibenden Würfel, in dem die Zimmer entstehen, behält die Bühne eine klaustrophobische Enge. Gruselig konnotierte Requisiten, eine blonde Puppe oder ein Stuhl mit menschlichen Füßen, Händen und ebenfalls blondem Haar, unterstreichen die Atmosphäre.

Juliane Götz brilliert als Avatarmädchen Iris

Im Refugium orientiert sich alles an der Figur Iris. Sie wird zu der Puppe und zu dem Stuhl, den Papa sinnlich streichelt. Das Mädchen als Objekt, überstilisiert mit blonder Perücke und pastellfarbenem Kleidchen. Eine mystisch erotische Figur, die sich für alle Kinder opfert. Sehr nachdrücklich dargestellt in einer Szene, in der ihr ein Rosenkranz auf den Kopf gedrückt wird. Wenig später sticht sie sich daran Hände und Füße auf. Stigmata, symbolische Wunden, wie auch Christus sie trug. Juliane Götz, die erst zwei Tage vor der Premiere für die krank gewordene Marie Fischer eingesprungen ist, spielt dieses überhöhte Puppenkind nicht nur, sie ist es. Jede Bewegung, jeder Gesichtsausdruck ist perfekt einstudiert und wirkt doch so flüssig als hätte sich die Schauspielerin nie anders bewegt. Überhaupt ist die schauspielerische Leistung außergewöhnlich gut. Immer verbunden mit den präzisen Kostümen von Anneke Goertz, die jede Persönlichkeit nach außen stülpen.

Die Figuren reisen in ihre innersten Abgründe

Bernd Geiling etwa ist nur an seiner markanten Stimme zu erkennen, so sehr verschwindet er unter strähnigen Haaren und im Fatsuit. In der gescheiterten Persönlichkeit seines unglücklichen Charakters suhlt er sich herzzerreißend abstoßend. Friedemann Eckert verbirgt die Unsicherheit seiner Figur in einem dandyhaften Anzug mit Gehstock und Hackenschuhen, auf denen er wortwörtlich ins Refugium stolpert. Herrlich die Szene, in der er verwundert seine erregte Männlichkeit ertastet – ein Bild, das sich erst später voll erschließt. Zora Klostermann hingegen ähnelt mit schwarzer Perücke Stieg Larssons Figur Lisbeth Salander: Wild und wütend tobt sie über die Bühne. Umtrieben von einer zerbrechlichen Zerrissenheit, die sich dem Zuschauer erst im Laufe des Stücks offenbart. Michael Schrodts Charakter ist der Ruhepol des Stückes. Im lila Anzug versprüht er selbst mit ätzender Topfschnittperücke Ausgeglichenheit, die nur in kurzen Augenblicken bricht, wenn er von seinen Neigungen spricht. Eine Krankheit, wie er sagt, von der es keine Heilung gibt. Was bleibt ist die Flucht in die Fantasie. In „Die Netzwelt“ geht es aber um viel mehr als nur die Frage, ob eine solche Flucht moralisch vertretbar ist. Es geht darum, sich seinem Ich, seinen tief vergrabenen Fantasien zu stellen. Mit all den möglichen Konsequenzen.

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