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Zueinanderfinden. Acht Frauen bilden die Gruppe Pangea. Sie sind an der unheilbaren Nervenkrankheit Multiple Sklerose erkrankt und haben ihre Angst durch Kreativität ersetzt.

© Promo

Potsdam: Die Zeit ist ein Klebeband

„Jederzeitlos“ von Pangea.unique dance hatte am Samstag in der fabrik Premiere.

Potsdam - Dunkel kann sie sich anfühlen, die Zeit. Vor allem, wenn sie langsam zu vergehen scheint. Sie ist dann so still, dass plötzlich der eigene Atem und jede noch so kleine Bewegung hörbar werden – so wie bei den Tänzerinnen der Gruppe Pangea.unique dance am Samstagabend in der fabrik. Acht Frauen liegen auf dem Boden in der Dunkelheit, zunächst regungslos, dann fangen sie allmählich an, sich zu bewegen und es wird heller. Zunächst tanzt jede für sich, nimmt nur sich selbst wahr. Das wirkt wie ein Erwachen. Irgendwann entstehen zaghafte Dialoge zwischen den Tänzerinnen, die sich bis zum Ende der Aufführung in ihrer Performance mit dem Phänomen der Zeit und ihrer Bedeutung für uns Menschen auseinandersetzen.

Mit einem „normalen“ Tanzstück hat der Zuschauer es bei der Premiere von „Jederzeitlos“ allerdings nicht zu tun. Pangea besteht aus Frauen, die an der unheilbaren Nervenkrankheit Multiple Sklerose erkrankt sind. Seit 2009 gibt es die Gruppe, die über sich selbst sagt, dass ihre Mitglieder sich nicht in die Angst, sondern in die Kreativität flüchten. Im Mittelpunkt steht der Spaß an der Musik und an der Bewegung. Die Frauen wollen zeigen, was trotz körperlicher Einschränkungen auf einer Bühne möglich ist, deshalb auch der Name Pangea: Für sie steht der Urkontinent für eine Welt ohne Grenzen und Einschränkungen. Einmal in der Woche wird in Potsdam geprobt, mit wechselnden Choreografen werden Tanzstücke einstudiert. 2016 etwa wurde mit der Potsdamer Choreografin Lydia Müller die Produktion „Sssss“ erarbeitet und in der fabrik gezeigt.

Für die diesjährige Aufführung in der Schiffbauergasse arbeitete Pangea mit der Musikpädagogin Sophia Waldvogel zusammen. Das Thema: Zeit. Der Titel des von Waldvogel choreografierten Stücks lässt zunächst einmal unterschiedliche Assoziationen zu. „Jederzeitlos“ erinnert an die Herbstzeitlose, die im Spätsommer und Herbst blüht und frühlingshaften Krokussen ähnelt. Er lässt sich aber auch als „Jederzeit los!“ oder „Jeder zeitlos“ lesen. Aufbruch ist darin und auch Schwerelosigkeit, Begriffe, die für Menschen mit der Diagnose MS noch einmal eine ganz andere Bedeutung haben können als für andere Menschen. Wie aber lässt sich Zeit – dieses ungreifbare Phänomen aus Stunden, Minuten und Sekunden – überhaupt auf einer Bühne sichtbar machen? Geht das? Pangea stellt im Stück die Frage nach diversen denkbaren Facetten von Zeit: Ist diese nur eine menschliche Erfindung? Hetzt der Mensch durchs Leben oder lässt er sich manchmal zu viel Zeit? Wo hat der Mensch Einfluss auf sie und wann ist er ohnmächtig? Und wie wichtig ist gemeinsames Erleben, wie geht Gegenwart?

Sophia Waldvogel hat für mögliche Antworten ein schlichtes Bühnenbild gewählt. Requisiten gibt es kaum, nur hin und wieder werden ein paar Stühle eingebaut. Und dann ist da noch der Rollstuhl einer Tänzerin, weil er gebraucht wird. Alle Frauen sind mit verschiedenfarbigem Klebeband auf ihrer Kleidung „gezeichnet“, eine trägt Kreise, die andere wieder Vierecke oder einfach nur Streifen. Warum wird im Laufe des Stückes deutlich: Die Markierungen stehen in Verbindung zu unzähligen Rollen Klebeband, die als Symbol für die Zeit Verwendung finden. Poetisch fallen die Tanzbilder nun aus: Hin- und hergerollt, wird das Band zur Zeit, mit der scheinbar nicht richtig etwas anzufangen ist. Auf den Boden geklebt, entstehen Zeitkreise, Unendlichkeiten. An anderen Stellen reißt immer wieder mal etwas vom Klebeband ab – denn Zeit ist endlich. Verbinden sich zwei Tänzer über ein Band, entsteht das Bild einer Freundschaft oder Beziehung. Irgendwann entsteht getanzt ein regelrechtes Zeitnetz, einem Spinnennetz ähnlich. Kreuz und quer hängen die Bänder im Raum, verbinden Rohre an den Wänden mit dem Fußboden oder Zuschauer mit Tänzerinnen. Berührende Sequenzen finden sich hier, etwa, wenn die Tänzerin im Rollstuhl mit Klebeband gefesselt wird und sich mühevoll daraus wieder befreit.

Das Publikum in der fabrik lässt sich an diesem Abend gerne in dieses bunte und vielschichtige Zeitnetz einweben. Schnell vergehen ja bekanntermaßen die Minuten, wenn etwas als schön oder spannend erlebt wird. Begeistert ist am Ende der Applaus. Der Funke – der Spaß dieser ungewöhnlichen Frauen an der Musik und an der Bewegung – ist übergesprungen. 

Andrea Lütkewitz

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