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Die bläulich schimmernde Fotografie „Häutung, Murcia“ (2020), abgezogen im Cyanotypie-Verfahren.

© Göran Gnaudschun

Porträt Göran Gnaudschun: Das Leben hat in seinen Fotos Spuren hinterlassen

Göran Gnaudschun hat schon einige Grenzen überwunden. Jetzt legt der Potsdamer Fotograf mit „I Follow Rivers“ sein persönlichstes Buch vor. 

Eine Häutung, so könnte man das jüngste Buch des Fotografen Göran Gnaudschun lesen. Ein Künstler schält sich aus seinen Schaffensphasen heraus, und landet wieder dort, wo er begann. Ein Mann in der Mitte seines Lebens wühlt sich durch das Gepäck der Jahre, durch schöne und schlimme Erinnerungen, berückende und bestürzende Assoziationen, und stößt dabei auf das Einzige, das wirklich zählt. Er hat es in die Widmung geschrieben: „Nichts. Oder für die Liebe.“

„I Follow Rivers" (publish&print Verlag, Dresden, 2020, 84 Seiten, 28 Euro) ist ein Buch über Liebe und Schmerz, sagt Göran Gnaudschun. Dass er damit eine einschneidende Trennung verarbeitet, von der Frau, mit der er drei Kinder hat, ist kein Geheimnis. Aber es ist auch nicht entscheidend. Denn was das Buch offensichtlich auch ist, der Titel sagt es: eine Suche, die über Persönliches weit hinausgeht. Nach künstlerischen Ausdrucksformen, aber auch Nähe, Halt. „Ich würde mich immer an Flüssen orientieren", sagt Gnaudschun. „Die führen einen schon irgendwo hin.“ Wasser ist Leben.

Entstanden sind Bilder, in denen das Leben seine Spuren hinterlassen hat - als hätte es eben mal den Rahmen verlassen. Eine Reifenspur im Schnee, ein Körperabdruck im Laken. Gnaudschun entblättert sich selbst, auch im Wortsinn. Auf einer Doppelseite zeigt er seine nackte Brust, großformatig, in Nahaufnahme: Fast könnte man meinen, dahinter das Herz schlagen zu sehen.

Nackte Haut, barocke Plastiken, Kinderhände, religiöse Motive: „I Follow Rivers" ist hoch emotional. Auch sentimental, wenn das heißt: an Vergangenes nicht ohne Rührung denken können. Seine persönlichste Arbeit, sagt Gnaudschun. Kitsch wird das nie, dafür ist es zu unbequem: Zwischen den Bildmotiven tun sich immer wieder Kluften auf; Brüche, die einen behaglichen Erzählfluss unmöglich machen. In den Lücken schlummert Märchenhaftes, Utopie, Grausamkeit.

Der Mythos des Sisyphos hat ihn inspiriert

Göran Gnaudschun, geboren 1971 in Potsdam, ist mit Brüchen und Lücken erwachsen geworden. Er kannte die DDR, bis er 18 war. „Für mich war sie immer so eine Art Faschingsveranstaltung“, sagt er. Bevor er Fotograf wird, war er Hausbesetzer. „Vorher müsst ihr uns erschießen“ heißt der erste Fotoband im Jahr 2000. Er dokumentiert die Besetzer-Jahre in Potsdams Holländischem Viertel. Heute unvorstellbar: Damals war es abbruchreif.

Der Potsdamer Fotograf Göran Gnaudschun.
Der Potsdamer Fotograf Göran Gnaudschun.

© privat

Gnaudschun, im Neubauviertel Am Stern aufgewachsen, zeigt, wie das aussah, aus radikaler Innenschau. Asche auf Nudelresten, Eiter auf Kniewunden, das Knäuel aus Menschen beim Tanzen. Was für viele in seinem Umfeld politisch eine Zeit der Enttäuschung ist, Kohls Wahlerfolg, machen die Hausbesetzer zur Party: „Was blieb, war der Gedanke: Wir machen das jetzt im Kleinen. Probieren das aus, was wir im Großen nicht haben konnten.“ Räume selber gestalten.

In den frühen 1990er Jahren liest er auch das erste Mal Albert Camus’ „Mythos des Sisyphos“. Daran, dass es Menschen geben muss, die an eine gerechtere Welt glauben, obwohl sie wissen, dass es nicht funktionieren wird, glaubt er noch heute: „Vielleicht sollte man genau das, das paradoxe Denken, pflegen.“

Für „Vorher müsst ihr uns erschießen“ erhält Gnaudschun von der Hochschule für Grafik und Buchkunst in Leipzig sein Diplom, die Hausbesetzer-Zeit ist da für ihn längst vorbei. Künstlerisch zeigt sich hier schon das Interesse an komponierten Portraits, der Blick für ungewöhnliche Gesichter von der gesellschaftlichen Peripherie. Das setzt er fort, mit der Serie „Alexanderplatz“, und, als Stipendiat der Villa Massimo in Rom, mit „Are you happy?“. Das Nebeneinander von Farbe und Schwarzweiß begleitet ihn seit damals.

Ein radikal subjektiver Blick

Wenn „I Follow Rivers“ an „Vorher müsst ihr uns erschießen“ erinnert, liegt das noch an einer anderen Facette: am Fragmentarischen, dem Alltag Entrissenen. Am Blick auf die roten Socken an verknoteten Frauenbeinen, die Hände beim Stein-schleift-Schere-Spielen, ein Kind beim Sprung ins Wasser. Gnaudschun hat für einige Bilder wieder analog gearbeitet, mit hartem Blitz, wie damals.

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In die frühen 1990er Jahre, als Potsdam zur Hausbesetzer-Hochburg wurde, fällt auch die Gründung einer Band: 44 Leningrad. Sowjetisches Liedgut auf Speed. Göran Gnaudschun ist eine Zeit lang als Fotograf dabei, auch als Sänger und Gitarrist. Eine Form der ironischen Aneignung, ein Tanz auf den Ruinen, sagt er. „Das Russentum war für uns eine Art zu sagen: Wir sind die Anderen. Dabei kamen wir alle aus Haushalten, die die DDR, den Staatssozialismus nicht so okay fanden. Wir wollten uns die Hüllen aneignen und Spaß haben.“ Die Fotos zeigen Schnappschüsse aus Garderoben, Toiletten, Backstageräumen. Jugend. Bier.

Aber Gnaudschun bleibt nicht beim radikal Subjektiven. Er weitet den Blick, interessiert sich für tiefer liegende Strukturen. Für Geschichte. Als er in Rom Stipendiat ist, erkundet er die Vororte im Osten der Stadt, entdeckt Hochhauskomplexe, Investruinen, Problembezirke. Und er entdeckt, dass Rom etwas kann, womit seine Heimatstadt Potsdam sich schwer tut: „Das Nebeneinander aushalten. Es gibt keine fertige Stadt. Es gibt nur Schichten und Strukturen, sichtbare und unsichtbare, und die wachsen weiter.“

Von Rom bis an die Brandenburger Gewässer

Darin könnte Potsdam von Rom lernen, sagt er kurz nach der Rückkehr 2017. Die Alte Fachhochschule, ein DDR-Bau, steht kurz vor dem Abriss. „Was wissen wir denn, ob die übernächste Generation es nicht schade findet, dass die Ostmoderne komplett abgerissen wurde? Vielleicht gibt es dann eine Aktion Mitteschön, die statt Barock-Fake Ostmoderne-Fakes aufstellt."

In Rom entstehen auch Texte für das Buch „Wüstungen“, das er 2016 mit Anne Heinlein macht: Sie als Fotografin, er als Autor. Sie besuchen Orte im ehemaligen Grenzstreifen, wo einst Dörfer standen. Sie wurden für den Bau der Mauer geschliffen, Tausende Menschen umgesiedelt. Die Mauer ist jetzt wieder weg. Was bleibt? Die Fotos zeigen zugewucherte Brachen. Gnaudschun recherchiert, spricht mit den Menschen über die verschwundenen Orte. „Es gibt keine Wiederkehr“, schreibt er. „Aber anscheinend löst sich das Gewesene langsamer auf, als wir gemeinhin glauben.“

Skulpturen aus Rom mäandern ebenso durch „I Follow Rivers" wie Brandenburger Gewässer und immer wieder: bläulich schimmernde Cyanotypie-Abzüge. Ein Entwicklungsverfahren, bei dem die Fotos am Licht trocknen müssen: Perfekt für sonnige Frühlingstage im Corona-Jahr. Das Bekannte wird so fremd, das Realistische traumverfangen, das Situative überzeitlich. Ob ein Kind, eine Baumkrone oder ein Heiliger, der bei lebendigem Leib gehäutet wird. Auch der ist in „I Follow Rivers“ zu sehen. Nicht alle Übergänge erklären sich in dieser Bildwelt. Jeder Fluss hat einen Fährmann, heißt es an einer Stelle. „Wen man ihn fragt, nach einer Überfahrt, winkt er ab: ,Bin zu betrunken und die Sicht ist so schlecht’.“

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