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Istanbul ist nicht nur das Sujet von Orhan Pamuks Literatur, er hält es auch in Fotos fest. Diese sind jetzt in Potsdam zu sehen.

© Orhan Pamuk

Orhan Pamuks fotografisches Werk bei Lit:Potsdam: Nachtspaziergang mit Orhan Pamuk

Am 4. August beginnt das Literaturfestival Lit:Potsdam, Corona zum Trotz. Nobelpreisträger Orhan Pamuk wird zwar doch nicht kommen - dafür zeigt eine Ausstellung im Kunstraum erstmals ausführlich Pamuks fotografisches Werk: die Stadt Istanbul im Wandel.

Potsdam - Wie war die Aufregung groß: Orhan Pamuk, der große türkische Romancier, der vielfach Ausgezeichnete und Literaturnobelpreisträger, würde nach Potsdam kommen. Pamuk sollte Writer in Residence bei dem Literaturfestival Lit:Potsdam werden, teilten die Veranstalter Anfang März mit, und als solcher in der Landeshauptstadt Lesungen veranstalten, sich ein paar Tage lang selbst vom Märkischen inspirieren lassen. Dann kam Corona. Wenn das Festival am kommenden Dienstag nun beginnt, wird Orhan Pamuk nicht anreisen. Den Posten des Writer in Residence übernahm der Berliner Schauspieler und Autor Matthias Brandt. Aber, und das ist kein geringer Trost, Orhan Pamuks Werk wird in Potsdam dabei sein. Eine Facette dieses Werkes zumal, die viele noch nicht kennen dürften.

In dem Bildband "Orange" spürt Orhan Pamuk der Farbe nach, die das nächtliche Istanbul seiner Kindheit hatte.
In dem Bildband "Orange" spürt Orhan Pamuk der Farbe nach, die das nächtliche Istanbul seiner Kindheit hatte.

© Orhan Pamuk

Orange als die Farbe der Kindheit

Denn Orhan Pamuk ist nicht nur Autor, sondern auch Fotograf. Das Sujet seiner Kunst hier wie da die Stadt, in der er 1952 geboren wurde: Istanbul. „Die Stadt, in der ich seit 66 Jahren lebe“, schreibt der Autor im Vorwort des Bildbandes, der in Potsdam vorgestellt und dem auf Initiative von Lit:Potsdam hin erstmals eine ganze Ausstellung im Kunstraum gewidmet werden soll. „Orange“ heißt der Band. Orange wie die vorherrschende Farbe auf den Fotos darin. Orange wie das nächtliche Istanbul aus Pamuks Kindheit und Jugend, bevor das kalte Licht der Neonröhren hier Einzug hielt. Im Istanbul der damaligen Zeit, so schreibt er, stand das weiße Licht für die Orte, die nichts Gutes verhießen. Fabriken, Warteräume, Krankenhäuser. Heute ist es überall. Sogar Pamuks Versuch, eine Glühbirne zu kaufen, die gelbes Licht verströmt, scheitert. Das weiße Licht sei billiger, bekommt er vom Verkäufer zu hören. Keine Nachfrage mehr, also auch kein Angebot.

Wann genau begann dieser Siegeszug des neuen, fremden Lichts?, fragt Pamuk im Vorwort. Eine präzise Antwort darauf hat er nicht. Dafür aber eine, die deutlich macht, warum es manchmal ganze Romane – oder eben Bildbände – braucht, um der Wahrheit auf die Spur zu kommen: Es ist immer schwierig, den genauen Moment gravierender Veränderungen auszumachen. Ob es nun um das Alter geht, politische Veränderungen, den Klimawandel. Oder das Antlitz, die Identität einer Stadt.

Die vom Literaturfestival Lit:Potsdam initiierte Ausstellung "Orange" zeigt vom 5. bis 9. August im Kunstraum die Fotos Orhan Pamuks.
Die vom Literaturfestival Lit:Potsdam initiierte Ausstellung "Orange" zeigt vom 5. bis 9. August im Kunstraum die Fotos Orhan Pamuks.

© Orhan Pamuk

Der Nationalstolz der Türkei, die Wahlwimpel von Erdogans AKP

So wie Pamuks Bücher nie nur von einer Sache erzählen – von der Liebe oder der Stadt Istanbul oder türkischer Politik – so erzählt auch der Bildband „Orange“ nicht nur die Geschichte des sich verändernden Lichts. Während der Autor sich Nächtens auf Motivsuche in immer entlegenere Stadtviertel begibt, laufen ihm die anderen Themen gewissermaßen ins Bild: Der mit den roten Flaggen geschmückte Nationalstolz der Türkei. Die mit einer Glühbirne versehenen Wahlwimpel von Erdogans konservativer Regierungspartei AKP. Die Frauen und Männer in traditioneller religiöser Kleidung, mit Schleier oder Kappen, deren Träger, so Pamuk, noch vor 30 Jahren von der Polizei verhaftet worden wären. Weil das Tragen europäischer Kleidung verordnete Norm war.

Orhan Pamuk selbst steht unter Personenschutz, seit 2007 der armenischstämmige Journalist Hrant Dink auf offener Straße erschossen wurde. Ein Freund Pamuks. Auch Pamuk selbst ist immer wieder von nationalistischen Kräften angefeindet worden. Zunächst stellte man ihm drei Bodyguards zur Seite, später nur noch einen. Dessen Präsenz muss man sich als schützenden Schatten bei Pamuks Streifzügen durch das nächtliche Istanbul vorstellen: immer ein paar Schritte hinter dem Fotografen, immer bereit einzuschreiten. Was sich anfangs wie eine Einschränkung angefühlt hatte, erhöhte Pamuks Bewegungsradius enorm: Erst jetzt konnte er sich mit seiner Leica völlig frei in Istanbul bewegen, schreibt er. Er schreibt auch: Der grimmige Nationalismus jener nuller Jahre sei inzwischen verhaltener geworden.

Der türkische Nobelpreisträger Orhan Pamuk wurde in 1952 Istanbul geboren. Seit 2007 kann er sich dort nur unter Personenschutz bewegen.
Der türkische Nobelpreisträger Orhan Pamuk wurde in 1952 Istanbul geboren. Seit 2007 kann er sich dort nur unter Personenschutz bewegen.

© picture alliance / Rolf Vennenbe

Die Hauptrolle spielt der Stein, der Knochen der Stadt

Und auf teilweise fast märchenhafte Weise verhalten sind auch Orhan Pamuks Bilder. Die Hauptrolle spielen nicht die Kinder, die in die Kamera winken, die Alten mit ihren Spazierstöcken, die Frauen mit Kopfbedeckung oder ohne – all das sind vorbeiziehende Komparsen. Die Hauptrolle spielt der Stein, der Knochen der Stadt, wenn man so will. Die oft bröckelnden Häuserfassaden, die das mal blasse, mal orangene Licht zurückwerfen, zwischen denen sich Wäscheleinen mit Tüchern, Hemden, Laken spannen. Der Asphalt, mal glänzend vom Regen, mal von Schneeresten umsäumt, mal von großen Schatten bespielt. Die Straßen und Gassen, die sich manchmal in einer gedachten Linie zum Bosporus am Horizont hin verlängern lassen.

Nichts ist diesen Bildern jedoch ferner als touristischer Glanz oder reißerische Nightlife-Vibes. „Es dreht sich um die Menschen und Straßen, die mir am meisten vertraut sind“, sagte Orhan Pamuk mal über seinen in großen Teilen in Istanbul spielenden Roman „Das Museum der Unschuld“. Er erschien 2008 gleichzeitig auf türkisch und auf deutsch. „Diese Vorstellung macht mich glücklich. Und dass deutsche Leser in ihrer Phantasie diese Straßen hinunterlaufen werden, finde ich aufregend.“ Spazierengehen durch eine ferne Stadt, so vertraut und scheu und sehnsuchtsvoll als sei es die Stadt der eigenen Kindheit: Dazu laden der vorliegende Bildband und die Ausstellung im Kunstraum Potsdam ein.

„Orhan Pamuk als Fotograf: The Changing Colours of Istanbul“, Buchvorstellung und Vernissage mit Verleger Gerhard Steidl am 5.8. um 19 Uhr im Kunstraum Potsdam, Schiffbauergasse 4D. Die Ausstellung ist bis zum 9.8. jeweils von 13 bis 18 Uhr zu sehen.

Orhan  Pamuk: „Orange“, Steidl Göttingen 2020, 192 Seiten, 350 Abbildungen, 34 Euro.

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Das Programm im Einzelnen:

Das Festival Lit:Potsdam findet vom 4.8. bis 9.8. an verschiedenen Orten in Potsdam statt. Zu Gast sind 35 Autorinnen und Autoren. Fast alle Veranstaltungen sind ausverkauft. Karten gibt es noch für ein Gespräch von Anne-Dore Krohn und Denis Scheck über "Die schöne Welt der Literatur im Park der Villa Jacobs (8.8. um 13 Uhr) und eine Lesung der Kinderbuchautorin Ursula Poznanski im Rahmen des Familiensonntags im Park der Villa Jacobs (8.8. um 17 Uhr). Plätze gibt es auch noch für das kostenlose Begleitprogramm: etwa einen Podcast-Workshop mit Katrin Rönicke und Holger Klein im Treffpunkt Freizeit (9.8. um 12 Uhr). Teilnahme nur mit bestätigter Anmeldung unter organisation@litpotsdam.de. Der Workshop ist Teil des kostenfreien Brandenburgischen Bücherfests, das in diesem Jahr im Treffpunkt Freizeit stattfindet (9.8. von 13 bis 18 Uhr), mit Open-Air-Bühne, Lese-Jurte, Ständen und einem Gespräch zu dem interkulturellen Projekt "Weiter Schreiben" mit dem syrisch-palästinensischen Dichter Ramy Al-Asheq und der Berliner Lyrikerin Monika Rinck im Theatersaal des Treffpunkt Freizeit (um 14 Uhr). Für alle anderen Veranstaltungen sind nur noch wenige Restkarten an der Abendkasse erhältlich. Mit dabei sind: Jan Brandt, Anke Stelling und Lea Streisand (4.8. um 19 Uhr), Kübra Gümüsay und Peter Sloterdijk (6.8. um 18 Uhr), Writer in Residence Matthias Brandt mit Regisseur Christian Petzold (6.8. um 19 Uhr) und solo (8.8. um 20 Uhr), Kritiker Denis Scheck und André Heller (7.8. um 19 Uhr) sowie Stephan Arbabanell, Alexander Osang und John von Düffel (9.8. um 16 Uhr). Den Abschluss machen Durs Grünbein und Ingo Schulze (9.8. um 19 Uhr).

Lena Schneider

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