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Kultur: Normal oder Kostüm?

Die Daniel Léveillé Danse Compagnie in der fabrik

Sie spalten ihr Publikum. Es gibt Zuschauer, die total fasziniert von der Arbeit der kanadischen Daniel Léveillé Danse Compagnie sind, andere verlassen türenschlagend den Saal und einige wenige würden die Aufführungen der berühmten Truppe aus Montréal am liebsten verbieten. Wie zuletzt bei einem Gastspiel in Polen, als sich ein orthodoxer Priester die Aufführung „Amour, acide et noix" zwar bis zum Schluss anschaute, aber im anschließenden Publikumsgespräch mittels Bibelzitat deren Verbot verlangte. Das erzählt die Tänzerin Ivana Millicevic im Vorfeld der Aufführungen, die heute und morgen im Rahmen der Reihe „Meisterchoreografien“ in der fabrik Potsdam gezeigt werden.

Ivana Millicevic gehört seit 1998 zur Compagnie, schon bei ihrem Studium an der Universität Montréal lernte sie Daniel Léveillé kennen und schätzen. „Amour, acide et noix“ hat sie von Anfang an – das Stück entstand 2001 und tourt seitdem erfolgreich durch die ganze Welt – begleitet. Léveillés choreografische Arbeit, die in den 70er Jahren im Stil des „Tanztheaters“ begann, erscheint heute auf ihr essentielles Wesen reduziert und zeigt einen expressiven Minimalismus von roher, kräftiger Schönheit. Und: Die Tänzer tanzen nackt. Anfangs habe sie sich auch daran gewöhnen müssen. Denn man musste seine Komplexe ablegen, musste lernen, nicht zu tricksen. Auch Tänzer haben ihre Problemzonen, sagt die überaus schlanke, ungemein durchtrainierte und dabei sehr temperamentvolle Frau.

Total fasziniert sei sie hingegen von der Arbeitsweise Léveillés gewesen. Der beim Tanzen nicht nur die eigentliche Bewegung, sondern die Konzentration und das Kräftesammeln davor gleichermaßen schätzt und inszeniert. Sie und ihr Kollege Justin Gionet vergleichen das mit der Technik des Bogenschießens. Die Stille vor dem Schuss sei fast wichtiger als dieser selbst. Das Abschnellen des Pfeils – im Stück sind das sehr hohe Sprünge – sei erst mal zweitrangig. Und wenn das Ziel verpasst würde, sei das sehr menschlich beziehungsweise männlich, wie Justin Gionet im Eifer des Gespräches sagt. Er selbst ist 2004 zufällig bei einem Vortanzen von Léveillés Compagnie gelandet und war sofort von den hohen Sprüngen begeistert, um derentwillen er einst überhaupt mit dem Tanzen begann.

Die Motivation, mit vollkommen unbekleideten Körpern zu arbeiten, ist daraus entstanden, zu sehen, wie der gesamte menschliche Körper beim Tanzen arbeitet. Unterhosen und BH’s verhindern den Blick auf seine Architektur, bringen ein erotisches Moment hinein, das Léveillé so nicht will. Stattdessen geht es darum, zum Beispiel das gesamte Becken, ein schlagendes Herz oder kräftige Pomuskeln arbeiten zu sehen. Und auch wenn die meisten Zuschauer etwa eine Viertelstunde brauchen, sich mit der konsequenten Nacktheit zu arrangieren, ist der Lohn ein vielschichtiger Blick auf die menschliche Körperarchitektur. „Amour, acide et noix“ handelt zudem von der Zärtlichkeit von Berührungen, der Härte des Lebens und dem Wunsch, dem Körper und seiner Schwere zu entfliehen. Léveillé singt damit eine ebenso radikales wie berührendes Lied auf die Schönheit und Zerbrechlichkeit menschlichen Lebens. „Kleider machen Leute“ ist ein geflügeltes Wort. Doch nicht ums Vortäuschen falscher Tatsachen geht es den vier kanadischen Tänzern, sondern um das ganz besondere Kostüm des eigenen Körpers, die nackte Haut.Astrid Priebs-Tröger

Heute und morgen, jeweils 20 Uhr in der fabrik. Samstag findet im Anschluss ein Zuschauergespräch statt und ab 21.30 Uhr spielt das Duo KARPAROV & BRUNN osteuropäisch orientierten Jazz, der die Klangwelten von Okzident und Orient verbindet.

Astrid Priebs-Tröger

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