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Kultur: Nichts bleibt, wie es ist

„Stadt ohne Ufer“ feierte Premiere in der fabrik

Dass sich nichts im Leben verändert, das gibt es einfach nicht – nirgendwo auf der Welt. Doch die Menschen empfinden Veränderungen bekanntlich oft als bedrohlich, denn sie bringen Unberechenbares mit sich. Umso stärker scheint das Streben von Gesellschaften, sich durch soziale Regeln und tägliche Routine eine Illusion von Unverletzlichkeit, ja, sogar Unsterblichkeit zu erschaffen. Nichts gibt mehr Sicherheit, als täglich festen Gewohnheiten nachzugehen und zu wissen: auch morgen ist es wieder so wie heute.

Auch in der fiktiven Stadt „Halbesonne“ halten es die Menschen so. Die Regisseure Philip Baumgarten und Daria Malygina verorten sie in dem Stück „Stadt ohne Ufer“, das am Freitag in der vollbesetzten fabrik Premiere hatte, auf einer Insel irgendwo in einem Ozean. Dargestellt von zwanzig Jungschauspielern der Theatergruppe Tarántula, leben die Bewohner von Halbesonne scheinbar glücklich.

Das Stück beginnt an einem Morgen, der Zuschauer blickt nach einander auf einen Spätkauf, der gerade öffnet, in eine kleine Küche, in der Vater, Mutter und Kind frühstücken, in eine Fabrik, in der der Produktionsleiter auf seine Arbeiter wartet und Wissenschaftler forschen, auf Gläubige, die ein Morgengebet sprechen. Die Menschen scheinen mit allem zufrieden zu sein, mit ihren Familien, ihrer Religion, der Arbeit. Und dann ist da der Höhepunkt des Tages: Eine Bürgermeisterwahl, zu der sich am Nachmittag alle versammeln. Am Abend geht jeder zufrieden zurück nach Hause, und auf den Straßen kehrt Ruhe ein.

Bald jedoch ahnt man, dass alles viel zu harmonisch ist, um wahr zu sein: Sobald das alltägliche Treiben beginnt, wird jedes Lachen, jede Bewegung bewusst überzogen dargestellt. Die Bürgermeisterwahl, für die es nur einen Kandidaten gibt, wirkt absurd, außerdem gibt es Bewohner, die Fragen aufwerfen. Da ist ein altes Ehepaar, das sich wundert, auch nach 100 Jahren immer noch zu leben, oder eine Obdachlose, die sich scheinbar der heilen Welt verweigert.

Als der zweite und dritte Tag anbrechen, wird alles noch seltsamer. In „Und täglich grüßt das Murmeltier“-Manier wiederholt sich der erste Tag, nur in Schnelligkeit und Lautstärke so sehr auf die Spitze getrieben, dass es gleichermaßen Geduld und Stressresistenz vom Zuschauer abverlangt. Schließlich aber wird das seltsame Geschehen, das auch viele komische Momente bereithält, durchbrochen: In der Fabrik gibt es eine Explosion, Massen von Müll, die zuvor im Meer schwammen, schütten sich über die Bewohner aus.

Unter dem Müll, der bis zum Schluss die Bühne bedeckt, kriecht dann auch noch ein Schiffbrüchiger hervor, der endgültig alles verändert und die bisher demonstrierte Einigkeit unter den Wissenschaftlern, Fabrikanten und Religionsführern ins Wanken bringt. Es wird deutlich, dass keiner von ihnen Antworten auf existenzielle Fragen geben kann. Mit seiner Ratlosigkeit greift das Stück viele aktuelle Themen auf: Wie wir mit unserer Umwelt umgehen etwa, wie wir arbeiten und uns ernähren wollen oder wo wir vielleicht zur Doppelmoral neigen. Auch wenn das viele wichtige Fragen sind, die es zu stellen gilt, hätte es der Inszenierung gut getan, sich auf einige Aspekte weniger zu konzentrieren, um hier mehr in die Tiefe zu gehen. Da aber gerade dieses Chaos auch das Chaos der Welt, in der wir leben, widerspiegelt, geht man durchaus nachdenklich nach Hause. Ein Nachdenken, das lange nachwirkt.

Am Ende müssen sich die Stadtbewohner von Halbesonne entscheiden: Zerwürfnis oder Neuanfang? Nach einem gefundenen Steuerrad greifen schließlich alle gemeinsam. Wohin sie die Stadt ohne Ufer – die nie Schiffe begrüßt oder selbst auf See geschickt hat – steuern, erfährt der Zuschauer nicht. Andrea Lütkewitz

Andrea Lütkewitz

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