zum Hauptinhalt
Blick vom Turm der Garnisonkirche in Richtung Nikolaikirche, Stadtschloss und Lustgarten um 1930.

© Atelier Eichgrün/Sammlung Potsdam Museum

Neues Buch mit historischen Potsdam-Fotos: Fremde, vertraute Stadt

Garnisonkirche, Kanal, Stadtschloss: Auf den Fotos des Ateliers Eichgrün ist alles noch da. Der Förderverein des Potsdam Museums hat daraus einen prächtigen Debattenbeitrag gemacht.

Potsdam - Wer denkt, Lücken in der Stadt Potsdam seien ein Vermächtnis des Zweiten Weltkriegs allein, der irrt. Das ist eine der vielen Lehren dieses von vorne bis hinten sehr lehrreichen Buches „Unterwegs in Potsdam und Umgebung“. Es wurde vom Förderverein des Potsdam Museums mithilfe eines Crowdfundingprojekts auf den Weg gebracht.

1910 in der Charlottenstraße: Kaiser Wilhelm II. zu Pferde, im Hintergrund die Straßenbahn.
1910 in der Charlottenstraße: Kaiser Wilhelm II. zu Pferde, im Hintergrund die Straßenbahn.

© Atelier Eichgrün/Sammlung Potsdam Museum

Auf gut 250 Seiten sind hier nun Stadtansichten des Ateliers Eichgrün aus den Jahren 1890 bis 1952 versammelt, darunter viele Vogelperspektiven. Und diese zeigen: In Potsdam klafften schon zur Kaiserzeit Lücken. Sie dienten dem Exerzieren.

Das Stadtschloss: umgeben von sandiger Einöde

Das mag angesichts der Rolle, die das Militär hier bekanntermaßen spielte, keine neue Einsicht sein. Und doch überrascht, wie wenig aus heutiger Sicht attraktiv etwa der Blick auf das Potsdamer Stadtschloss um 1894 war: Umgeben von einer sandigen Einöde, in der man beim genauen Hinsehen Hufabdrücke und Fußspuren zu erkennen glaubt. 

Auch der Lustgarten, um 1930 von luftiger Höhe aus betrachtet, sah nicht nach einem Ort der Verlustierung aus. Eher nach kahler Steppe, über die Menschen, klein wie Ameisen, dem Stadtschloss zustrebten. Oder daran vorbei, in Richtung Bahnhof?

Die luftige Höhe, von der aus Walter Eichgrün 1930 fotografierte, war die Garnisonkirche. Das atemberaubende 360-Grad-Panorama, das er von dort aufnahm, ist das Herzstück des Buches: Auf ausklappbaren Seiten fächert sich mikroskopisch genau das Potsdam der Vorkriegszeit auf. Im Norden sieht man den Pfingstberg, im Nordosten den Wilhelmplatz, der heute Platz der Einheit heißt. 

Eine Stadt, die nicht nur schön war

Im Südosten den Brauhausberg, wo die Königlich-Preußische Kriegsschule noch ihren neogotischen Turm hat. Man blickt auf eine Stadt, die bis auf wenige Anhaltspunkte heute fremd wirkt. Eine Stadt, die es nicht mehr gibt. Und die, siehe oben, nicht nur schön war.

Der vorliegende Band ist die Fortsetzung des 2010 erschienenen Buches „Spaziergänge durch Potsdam“, das erstmals Stadtansichten des Ateliers Eichgrün zu Spaziergängen bündelte. Autor war Peter Rogge, beim aktuellen Buch ist er es mit Judith Granzow. Das Buch von 2010 ist längst vergriffen – ein Grund, sich nun nochmals in den Nachlass des Atelier Eichgrüns, seit 2007 im Bestand des Potsdam Museums, zu vertiefen. 

Mitmischen in der Debatte um die Zukunft Potsdams

Einen zweiten Grund nennen die Herausgeber Jutta Götzmann und Markus Wicke im Vorwort: die „anhaltenden und teils heftig geführten Debatten zur Umgestaltung des Potsdamer Stadtbildes nach 1989“. Der Band will also ganz bewusst mitmischen in der Debatte um die Zukunft des Stadtbildes – und zwar ausdrücklich unvoreingenommen.

Darin hält das Buch Wort. Zu bestaunen ist der schöne Blick von der Garnisonkirche über die Stadt, die originale „Engelstreppe“ am Stadtschloss, die Heiliggeistkirche, das Glockenspiel in der Garnisonkirche – alles Zankäpfel jüngerer Zeit. Zu bestaunen sind aber auch, sehr unschön: Aufnahmen des Kaisersohns Prinz August Wilhelm in Nazi-Uniform vor strammstehenden Schülern der Napola in der ehemaligen Kadettenanstalt. Ein Aufmarsch der SA auf dem Wilhelm-Platz. 

Kaisertreue auch nach der Kaiserzeit

Viele Fotos bezeugen auch die Kaisertreue der Potsdamer:innen über die Kaiserzeit hinaus: 1921 das Begräbnis der letzten Kaiserin Auguste Viktoria unter reger Beteiligung der Öffentlichkeit, 1933 der große Trauerzug, der dem bis ans Lebensende monarchistisch gesinnten Garnisonpfarrer Johannes Vogel folgte. Dreizehn Jahre und nur eine Buchseite später sind Menschenmassen zu sehen, die sich am 1. Mai 1946 versammelt haben, um dem SED-Landesvorsitzenden Friedrich Ebert zuzujubeln. 

Gestochen scharf. Die Feldseite des Berliner Tores mit Blick in die Berliner Straße um 1905.
Gestochen scharf. Die Feldseite des Berliner Tores mit Blick in die Berliner Straße um 1905.

© Atelier Eichgrün/Sammlung Potsdam Museum

Solche Entdeckungen bietet das Buch gewissermaßen en passant. Vordergründig werden hier insgesamt acht Spaziergänge angeboten, zum Beispiel vorbei an Stadtkanal und Neuer Synagoge – beides wurde zerstört, um beides ranken sich in Potsdam bekanntlich aktuelle Bauvorhaben

In einem Stadtplan von 1912 sind die jeweiligen Orte verzeichnet, sodass man bei einem Spaziergang das Damals mit dem Heute hausnummerngenau abgleichen könnte. Handlich ist der Band allerdings nicht, dazu ist er zu prächtig geraten – womöglich wird eine abfotografierte Seite beim Praxistest herhalten müssen.

Ungewöhnliche Detailgenauigkeit

Was die abgebildeten Fotos jenseits allen ideologischen, historischen Gepäcks wirklich besonders macht, ist ihre Detailgenauigkeit – ungewöhnlich für historische Fotografien. Möglich wurde das, weil Ernst Eichgrün (1858-1925) und nach ihm sein Sohn Walter (1887-1957) mit Glasplatten-Negativen gearbeitet haben, die eine ungewöhnliche Schärfe zulassen. Einige nur 6 x 9 Zentimeter groß, andere 40 x 50 Zentimeter. 

[Was ist los in Potsdam und Brandenburg? Die Potsdamer Neuesten Nachrichten informieren Sie direkt aus der Landeshauptstadt. Mit dem Newsletter Potsdam HEUTE sind Sie besonders nah dran - in den Herbstferien einmal wöchentlich am Freitag. Hier geht's zur kostenlosen Bestellung.] 

Die Spuren, die die Zeit auf den Platten hinterlassen hat, wurden digital von dem Gestalter und Grafiker Peter Rogge bearbeitet – mit dem Ziel, die Motive möglichst so aussehen zu lassen, wie die Eichgrüns sie damals aufgenommen hatten. 

So kommt es, dass man heute nicht nur sieht, wo damals der Putz abblätterte, sondern dass auf einigen Fotos auch die Menschen zurückblicken, als seien sie nicht schon vor Jahrzehnten verstorben. Als seien sie nur mal um die Ecke gegangen und in der Verkleidung vergangener Zeiten zurückgekommen, um zu bleiben.

Judith Granzow, Peter Rogge: Unterwegs in Potsdam und Umgebung. Fotografien aus dem Atelier Eichgrün 1890-1952. 250 Seiten, 39,95 Euro. Erhältlich im Potsdam Museum und im „Internationalen Buch“.

Zur Startseite