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Abstrakten Impressionismus wie „My Shell Angel“ von Sam Francis zeigt das Potsdamer Museum Barberini in seiner neuen Schau „Die Form der Freiheit“.

© Ottmar Winter PNN

Neue Ausstellung im Barberini: Rütteln am Kanon

Zwischen Farbrausch und Traumata, Big Names und Entdeckungen: Das Museum Barberini widmet sich abstrakter Kunst nach 1945. 

Potsdam - Vor gut vier Jahren war im Museum Barberini eine monumentale Schau mit Kunst aus der DDR zu sehen: „Hinter der Maske“ hieß sie. Ab Samstag ist am Alten Markt nun zu besichtigen, was das Museum selbst als das Gegenstück zu damals bezeichnet hat: ein monumentaler Blick auf die Kunstrichtung, die die Welt jenseits des Eisernen Vorhangs nach 1945 maßgeblich prägte. „Die Form der Freiheit“ ist die Schau betitelt, und die Form, von der hier die Rede ist, ist die Abstraktion. 

Wären im Rückschluss also andere Formen, die des in der DDR überwiegenden Figürlichen etwa, Formen der Unfreiheit gewesen? Der Ausstellungstitel birgt durchaus Diskussionspotenzial – was die Macher:innen auch erkannt haben, wie ein Blick in den parallel erschienenen Katalog zeigt: Darin steht im Essay von Jeremy Lewison hinter dem Titel „Die Form der Freiheit?“ ein Fragezeichen. 

Blickrichtung New York: Judit Reigls „Dominanzzentrum“ von 1958. 
Blickrichtung New York: Judit Reigls „Dominanzzentrum“ von 1958. 

© bpk / CNAC-MNAM / Georges Meguerditchian

Strömungen im Dialog

Auch wenn ideologische Grabenkämpfe aus der Kulturpolitik und den westeuropäischen Kulturtransfers nach 1945 nicht wegzudenken sind, wie Lewison beschreibt: Um die geht es in der Ausstellung selbst nur ganz am Rande. „Die Form der Freiheit“ zielt auf etwas anderes ab. Sie will nachweisen, dass die zwei wichtigsten Strömungen der Abstraktion nach 1945, die seit Jahrzehnten als separat und sogar konkurrierend wahrgenommen wurden, im Grunde in engem Dialog miteinander standen. Beide Strömungen entwickelten sich in den 1940er-Jahren als Reaktionen auf die Gräuel des Zweiten Weltkrieges, auf Stalingrad, Auschwitz, Hiroschima und Nagasaki: die informelle Malerei in Westeuropa, in den USA der Abstrakte Expressionismus. 

Bisher sind die beiden Strömungen getrennt rezipiert worden, Kurator Daniel Zamani denkt sie erstmals zusammen – und hängt ikonische Bilder wie die von Jackson Pollock und Mark Rothko bewusst neben unbekanntere Theodoros Stamos und lange ignorierte Künstlerinnen wie Helen Frankenthaler oder Deborah Remington. Ganz nebenbei – oder vielmehr ganz bewusst – rüttelt Zamani so ordentlich am Kanon der Kunstgeschichte.

Gemeinsamer Ausgangspunkt 

Wir lernen, dass die gebürtige Ukrainerin Janet Sobel schon vor Jackson Pollock mit „Drip Paintings“ experimentierte (für die Pollock dann berühmt wurde) – und dass Lee Krasner, seit 1945 die Ehefrau von Jackson Pollock, erst nach Pollocks Tod 1956 mit Großformaten loslegen konnte – weil Pollock selbst das riesige Atelier besetzte, während Krasner im Schlafzimmer werkeln musste. Dafür hatte sie 1955 bereits die Frechheit besessen, ein Bild Pollocks in einer eigenen Collage in einen „Weißkopfseeadler“ zu verwandeln. Zamani zeigt: Amerikanische Abstraktion nach 1945 war nicht der „all American boys club“, für den sie oft gehalten wird. 

Gemeinsam war den Strömungen in Europa und den USA schon der Ausgangspunkt, argumentiert Kurator Daniel Zamani: die „Crisis of Man“. 

Die Tatsache also, dass der Zweite Weltkrieg alle Gewissheiten grundsätzlich ins Wanken gebracht hatte, auch in der Kunst. Das Figürliche rückt in den Hintergrund, die Freiheit der Künstler:innen wächst. Werke werden größer, spontaner, in den Materialien vielfältiger. Man thematisiert nicht mehr die gegenständlich fassbare Welt, sondern das eigene Verhältnis zu ihr. Man war fasziniert von Sartre und vom „kollektiven Unbewussten“ C.G. Jungs. 

Wie der Impressionismus in der Abstraktion fortlebte

Viele der amerikanischen Künstler:innen waren zudem stark von europäischen Einflüssen geprägt – Sam Francis, Joan Mitchell und Norman Bluhm etwa verbrachten nach dem Zweiten Weltkrieg längere Zeit in Frankreich, setzen sich mit Surrealismus oder Impressionismus auseinander. Hier schließt sich der Bogen zum Museum Barberini: Werke von Sam Francis, Joan Mitchell und Norman Bluhm aus der Sammlung von Hasso Plattner bildeten den Ausgangspunkt für „Die Form der Freiheit“ – und zeigen, wie der Impressionismus in der Abstraktion fortlebte. Norman Bluhms „Weißes Licht“ von 1958 lässt an eine Sommerwiese denken, Joan Mitchell gehörte in New York dem erlesenen Kreis um Willem de Kooning und Franz Kline an, war aber auch in Paris unterwegs, wo sie 1982 als erste US-amerikanische Künstlerin eine Retrospektive am Musée d’art moderne erhielt. 

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Sam Francis, dessen so monumental wie sommerleichtes Bild „My Shell Angel“ von 1986 den Raum zum „Abstrakten Impressionismus“ beherrscht, verbrachte nach 1950 einige Jahre in Paris. Judit Reigl hingegen, eine Ungarin in Paris, orientierte ihre Arbeit ganz und gar am Action-Painting-Geschehen in New York – obwohl sie nie selbst da war. Die erste Pariser Pollock-Ausstellung soll 1952 dort eingeschlagen haben wie eine Bombe.  „Die Form der Freiheit“ ist eine Schau, die nationale Zuschreibungen und genialische Heldenverehrung hinterfragt, Querverbindungen offenlegt – und deren Farbgewalt und stilistische Vielfalt schlichtweg überwältigen. 

Ikone. Jackson Pollocks „Komposition Nr. 16“.
Ikone. Jackson Pollocks „Komposition Nr. 16“.

© Pollock-Krasner Foundation/VG Bild-Kunst

Wo sich europäische und US-amerikanische Kunst unterscheiden

Auch wenn es dabei überzeugend um Gemeinsames geht, ruft sie nebenbei noch einmal eindrücklich die Unterschiede zwischen der Kunst in Europa und den USA in Erinnerung: Wo in Amerika wie im Jazz die Farben explodieren, brachen sich in Europa oft persönliche Traumata Bahn – in dunklen Farbtönen eines Alberto Burri oder Wols klaffen Löcher wie Wunden. Dass es auch jenseits der Mauer, in der DDR, Abstraktion gab, die „Form der Freiheit“ – das klammert diese Schau jedoch aus.
„Die Form der Freiheit. Internationale Abstraktion nach 1945“, 4.6. bis 25.9. 

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