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In der Schmugglerbucht. Daria Rositskaya als Carmen.

© Kammeroper/Uwe Hauth

Kultur: Nachtschattengewächse

Radikal: Der Regisseur Giorgio Madia inszeniert „Carmen“ im Heckentheater der Kammeroper Schloss Rheinsberg

Kaum eine andere Oper lässt solch einen Wirbel an Farben vor dem inneren Auge entstehen wie George Bizets „Carmen“: sengende Sonne über den Dächern Sevillas, rote Lippen, rauschende Rüschenkleider, gesprenkeltes Toreroblut im hellgelben Sand. Was Regisseur Giorgio Madia allerdings wenig beeindruckt. In seiner Inszenierung für die Kammeroper Schloss Rheinsberg im Heckentheater fegt der Italiener alle Klischees, die die populärste Oper der Welt wie Fliegen umschwirren, mit einem Wisch beiseite. Lenken nur ab, sagt er. Und konzentriert sich auf nichts anderes als – die Körper. Denn die Geschichte wird, meint er, allein von ihnen erzählt. Farben sind konsequent verbannt, alle Sänger tragen Schwarz, auch die Bühne – Kathrin Hauer hat ein paar schwarze Treppenstufen gebaut, die an eine Arena erinnern – ist in ihrer Unaufgeregtheit alles andere als ein Hingucker. Ein radikales Konzept.

Es geht auf, weil die Darsteller mitmachen, sich regelrecht ausliefern. Allen voran Carmen: Daria Rositskaya ist eine Wucht, eine Urgewalt. Mit aufgeschlitzten Beinkleidern, rauchigem Mezzo und glutvoll-brünetter Haarpracht verdreht sie den Männern den Kopf. Lockt Soldaten dämonisch grinsend mit dem Finger, um im nächsten Moment mädchenhaft kichernd abzudrehen und den eben noch Umgarnten als dämlichen Gockel zurückzulassen. Eine Carmen wie aus dem Bilderbuch, in der der Stolz der freien Frau und archaische, fast animalische Wildheit eine fatale Liaison eingehen. Nie kann man sich sicher sein, sie wirklich im Griff zu haben, jeden Augenblick kann sie zubeißen. Was sie auch tut.

Der Don José von David Esteban Fruci Gomez kommt ebenfalls fast archetypisch daher: reserviert zunächst, brechen in ihm alle Dämme, nachdem Carmen ihm die schwarze Rose zugeworfen hat. Fruci Gomez’ unglaublich klarer Tenor, der ihm scheinbar mühelos aus der Kehle fließt und bei den langen, hohen Tönen seine ganze Strahlkraft entfaltet, ist sensationell. Ein Sängerfest, zu dem auch Nadezhda Orlova ihren Teil beiträgt, die als Micaela, Josés ursprüngliche Geliebte, mit sanfter, glockenheller Stimme das Prinzip Mütterlichkeit zu vertreten scheint. Der Escamillo von Vladislav Kupriyanov fällt demgegenüber etwas ab: mit kernigem Bariton zwar, aber stocksteif verschenkt er ausgerechnet die Toreador-Arie. Carmen, ist das dein Ernst, dass du auf diese Schlaftablette abfährst?

Der Fokus des Regisseurs auf Gestik, Mimik, pure Körperlichkeit kommt nicht von ungefähr. Giorgio Madia ist auch Choreograf, wurde an der Scala ausgebildet, war Solotänzer bei Maurice Béjart. Und holt jetzt Tänzer der Berliner Ballettschule Etage als Soldaten und Schmuggler. Sie gehen sich hart an, raufen und balgen, schenken sich nichts – und verfallen auch mal plötzlich in Breakdance, warum nicht? Bei all dem behält Madia einen liebevollen Blick für Details, etwa wenn den Soldaten die Gesichtszüge entgleiten, als Carmen bei der Habanera-Auftrittsarie ihre Brüste entblößt – jugendfrei mit dem Rücken zum Publikum.

Musikalisch wird das engagiert begleitet von der erst 2015 gegründeten Jungen Kammerphilharmonie Berlin. Zwar fehlt es manchmal an orchestraler Fülle, aber was Dirigent Aurélien Bello seinen Musikern entlockt, kann sich trotzdem hören lassen. Weil er präzise arbeitet und unzählige Details und musikalische Zellen herauspräpariert, wie die beseelten Soli von Oboe oder Flöte in den Vor- und Zwischenspielen. Einzelne Stimmen sind in Rheinsberg so plastisch zu hören wie sonst selten, etwa das rechts in den Hecken versteckte Schlagwerk mit den charakteristischen Kastagnetten oder die beiden Trompeten, die zweimal direkt vor dem Publikum vorbeilaufen. Auch Regisseur Madia bricht den Raum mehrmals auf, lässt etwa David Esteban Fruci Gomez von hinten das Publikum queren. Die Qualitäten seiner Stimme werden in diesem – unverstärkten – Moment besonders deutlich.

Zu vorgerückter Stunde vermengt sich die Dunkelheit im Heckentheater mit dem Schwarz der Kostüme. Lauter Nachtschattengewächse tanzen da, und doch vermisst man die Farbigkeit in keiner Sekunde, vielmehr erblickt man Carmen plötzlich in neuem Licht. Weil Madia sie, dergestalt entkleidet, auf ihre emotionalen Grundstrukturen zurückführt. Und ihr, als sich alle Darsteller zum finalen Kampf zwischen Carmen und Don José schwarze Tücher überstreifen, sogar so etwas wie mythologische Tiefe verleiht.

Mit welchen Augen mag Frank Matthus auf diese Inszenierung blicken? Vor einigen Wochen wurde bekannt, dass der künstlerische Direktor der Kammeroper sein Amt niederlegen wird, 2018 soll seine letzte Saison sein. Dabei hat der Sohn von Festivalgründer Siegfried Matthus den Stab erst 2014 übernommen. Die Vermutung liegt nahe, dass es mit den neuen Strukturen zu tun hat: Kammeroper und Musikakademie, die 25 Jahre unabhängig nebeneinander existierten, sind seit 2015 in der Musikkultur Rheinsberg GmbH fusioniert, der ein gemeinsamer Geschäftsführer vorsteht. Er muss jetzt einen Nachfolger für Matthus finden. Der wiederum sagt im Gespräch, dass er sich erst im September, wenn das Festival vorüber ist, zu den Gründen seines Rückzugs äußern will. Mit dieser „Carmen“ jedenfalls darf er sich eine der gelungensten Rheinsberger Produktionen der letzten Jahre auf seine Fahne schreiben. Udo Badelt

wieder am 8., 9. und 11.–13. August

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