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Musikfestspiele Potsdam: Als Europa noch exotisch war

Ein Probenbesuch in Versailles zeigt, wie die Barockoper „L’europe galante“ wieder auflebt.

Versailles - Die Masken sind aus Papptellern. In einem Raum im Centre de Musique Baroque in Versailles sitzen zwei junge Frauen, Mitte 20, und basteln, umgeben von wertvollen alten Geigen und Gamben in Glaskästen, die Kostüme und Requisiten für die Opéra-Ballet „L’Europe galante“. Die fertigen Masken liegen auf dem Tisch, ein gelber Rock mit großen weißen Punkten, aus einer Plastiktischdecke genäht, hängt auf einem Bügel, ein Riesendiadem aus Wegwerfbechern lagert in einem Karton. Nachhaltiges Design für eine Oper, die schon mehr als 300 Jahre auf dem Buckel hat.

„L’europe galante“ stammt aus dem Jahre 1679, komponiert hat sie André Campra, einst Kapellmeister der Kathedrale von Notre-Dame in Paris, für die er Kantaten und Motetten schrieb. Seine erste Oper hingegen kommt durch und durch weltlich daher. Die Geschichte ist schnell erzählt: In vier verschiedenen Szenen begegnen sich Liebespaare aus vier Ländern und führen vor, wie galant geliebt wird: im romantischen Spanien, im karnevalesken Italien, im bukolischen Frankreich und in der einem Serail gleichenden Türkei.

Bereits im Prolog der Oper, komponiert auf ein Libretto von Antoine Houdar de la Motte, zeigt sich, wie Vorurteile klingend zum Tragen kommen sollen. „Der Franzose wird als flatterhaft, indiskret und kokett geschildert, der Spanier als treu und romantisch; der Italiener als eifersüchtig, raffiniert und aufbrausend“, heißt es da. Die Türkei schließlich sei das temperamentvolle Land, hoheitsvoll und souverän wie seine Sultane.

Mit Tanz, opulentem Dekor und fremden Sprachen

Heute nahezu unerträglich klischeehaft, hatte „L’europe galante“ einst enormen Erfolg. Mehrere Jahrzehnte lang wurde die Ballettoper aufgeführt, bejubelt vom Publikum, das satt und müde war von den „Tragédies en Musique“ eines Jean-Baptiste Lully. Dem Schwergewicht der französischen Barockmusik mit seinen ernsten Opern aus mythologischen oder historischen Stoffen, in denen es von griechischen Helden und Göttern, Tempeln und allerlei Budenzauber nur so wimmelte. Bei Campra gab es erstmals Leichtigkeit, raffinierte Unterhaltung. Und Exotik. Die Sinne sollten angesprochen werden, mit Tanz, opulentem Dekor, fremden Sprachen und natürlich dem Gesang.

„Nein, das ,R’ muss vorne an den Zähnen gerollt werden, damit der Konsonant klingt und die Stimme nicht stockt“, korrigiert Benoît Dratwicki die Sopranistin Eugénie Lefebvre bei der Probe in seinem Büro, über dem Raum der Näherinnen. Dratwicki ist Leiter des CMB, der Institution für französische Barockmusik. Er hält sich streng wie die Meister des benachbarten Schlosses Versailles an die klassizistischen Vorgaben: Da in der Architektur von Schloss und Park, hier in den Abhandlungen der königlichen Akademie, wie das Französische auszusprechen sei. Alles muss kontrolliert werden, der Stimmapparat meisterhaft beherrscht. Dratwicki kennt sie in- und auswendig, diese Traktate aus dem 18. und 19. Jahrhundert. „Das Französische erfordert eine sehr große Kontrolle der Zunge“, sagt er. In der Oper sollen selbst Konsonanten Impulse setzen, Effekte für die Sinne des Publikums. Und bloß nicht zu viel Emotion in die Stimme legen, mahnt er. Die französische Deklamation sei eben nicht wie die italienische Arie mit ihren langen A und O. Dratwicki ist ein großer Verfechter dieser Subtilitäten, die dem gemeinen Hörer schlichtweg entgehen.

Doch nicht nur Campras Oper versetzt einen zurück in die Geschichte, auch das Gebäude des CMB selbst. In diesem eher unscheinbaren Haus an einer der Prachtstraßen Versailles, wo in diesen Tagen die Proben für die Koproduktion zwischen Potsdam, Versailles und Prag für „L'europe galante“ in vollem Gange sind, während die französischen Eisenbahner mal wieder den Verkehr durch Streik lähmen, wurden 1789 die Menschenrechte und die Bürgerrechte ausgerufen.

Die Sänger spielen Studenten

Gut 100 Jahre zuvor noch, zu Zeiten Campras, stand Europa unter anderen Vorzeichen. Es war die Ära des aufblühenden Handels, neuer Bündnisse und königlicher Allianzen, die auch in Campras Oper nachklingen – mit Spanien und der Türkei etwa als Gegengewicht zur Übermacht anderer Herrscherhäuser. Der türkische Botschafter war es auch, der den Kaffee an den Hof Louis XIV. brachte und in Paris das erste Casino eröffnete. Die Vorliebe für das Fremde damals kam aber nicht nur über die Politik, sondern auch über Reiseliteratur, die editiert und in Umlauf gebrachte wurde. Manche Klischees setzten sich so in Worten fest.

Stellt sich natürlich die Frage, wie sich „L’europe galante“ ins Heute übersetzen lässt? Regisseur Vincent Tavernier nimmt dafür einen szenischen Kniff vor: Die Sänger spielen Studenten, die auf einer Party in die verschiedenen Rollen von Liebespaaren schlüpfen. Aus dem amerikanischen Bass-Bariton Douglas Williams wird der Student, der sich in einen Sultan verwandelt. In einer der letzten Szenen breitet sich der obercoole Sultan genüsslich auf dem Boden aus und gibt seiner Verflossenen, gemimt von Eugènie Lefebvre, den Laufpass. Soll sie ihm doch den Genuss seiner neuen Geliebten gönnen.

Vielleicht lässt sich ja Europa heutzutage am besten mit guter Persiflage begegnen, mit anspruchsvoller Musik und viel Unterhaltung. Und mit einem lohnenden Blick zurück in die Geschichte. 

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„L’europe galante“ hat am 19. Juni um 20.30 Uhr im Orangerieschloss Sanssouci Premiere. Weitere Aufführungen am 21., 22. und 23. Juni, jeweils um 20.30 Uhr

Grit Weirauch

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