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Die Schriftstellerin Karen Köhler

© Christian Charisius/dpa

"Miroloi" von Karen Köhler: Ich mach' mich dann mal weg

Klagegesang in 128 Strophen: Karen Köhlers erster Roman „Miroloi“ über die rabiaten Zumutungen des Patriarchats.

Die erste Strophe beginnt mit Beschimpfungen. „Eselshure. Schlitzi. Nachgeburt der Hölle.“ Eine zunächst namenlose Heldin und Ich-Erzählerin berichtet, wie sie hinkend durch ihr Dorf zieht und von gehässigen Kindern beleidigt und drangsaliert wird. Die junge Frau scheint vogelfrei zu sein, überlebt im Grunde nur, weil sie unter dem Schutz eines „Betvaters“ steht, eines gütigen Geistlichen, der in einer seltsam fremden, patriarchal organisierten Dorfgemeinschaft Kraft seines Amtes Respekt genießt. Die strengen Regeln der Gemeinde sind in dem heiligen Buch Khorabel niedergeschrieben, das nicht nur dem Namen nach eine Mischung aus Koran, Thora und Bibel darstellt.

Wir befinden uns auf einer von der Zivilisation weitgehend abgeschnittenen Insel, in einer Zeit, die vergangen scheint, aber doch noch nicht so lange her ist. Der Roman – das legen Titel und Struktur nahe – soll ein Klagelied sein, eben ein Miroloi. Den von Frauen angestimmten Totengesang gibt es in der griechisch-orthodoxen Kirche tatsächlich. Für Karen Köhler bietet seine traditionelle „Rede über das Schicksal“ den Rahmen ihres ersten Romans. „Miroloi“ (Carl Hanser Verlag, München 2019. 463 Seiten, 24 €.) ist in 128 Strophen unterteilt, die jeweils auf wenigen Seiten s ein eigenes Thema wie den Opferkult oder die die Mühen der Landwirtschaft behandeln, aber auch die Lebensgeschichte der Heldin vorantreiben.

Zentral ist hier das reaktionäre Geschlechterverhältnis innerhalb einer Religionsgemeinschaft

Köhler, die viele Jahre als Schauspielerin gearbeitet hatte, als sie Theaterstücke, Drehbücher und Prosa zu schreiben begann, knüpft mit „Miroloi“ an ihren vielgelobten, 2014 veröffentlichten Kurzgeschichtenband „Wir haben Raketen geangelt“ an. So ambitioniert die Anlage des Romans auf den ersten Blick erscheinen mag, das Buch lebt vor allem von kleinen Szenen, Beobachtungen und Miniaturen, die sich mal besser, mal schlechter ins Gesamtkonzept einfügen.

Zentral für alles, was auf den immerhin 463 Seiten erzählt wird, ist das rabiat-reaktionäre Geschlechterverhältnis innerhalb einer religiösen Gemeinschaft, in der Glauben schnell in Terror gegenüber missliebigen Mitgliedern, vor allem Frauen umschlagen kann. Erstaunlicherweise akzeptieren die meisten Frauen ihr jämmerliches Schicksal, nur die geschundene Heldin rebelliert, obwohl sie sich vor den Konsequenzen und dem eigenen Gewissen fürchtet: „Ich will nur Gutes, aber es scheint, ob jede meiner Bewegungen Schlechtes hervorruft.“

Sie lernt zu lesen (was sonst nur Männern erlaubt ist), sie lernt schwimmen (was einem Fluchtversuch gleichkommt und mit dem Schandpfahl bestraft wird), sie hat außerehelichen Sex mit einem „Betschüler“ (selbstverständlich eine Todsünde) – und sie lässt sich von ihrem Angebeteten einen Namen geben (ein Höhepunkt der frevelhaften Emanzipation). Alina, so heißt sie nun, weiß durchaus, welchen Gefahren sie sich aussetzt, denn man hat auch sie schon mal in aller Öffentlichkeit auf so schlimme Weise mit Schlägen traktiert, dass ihr Bein zertrümmert wurde. Die Hüter der Khorabel erinnern ein wenig an die Schergen des IS oder die Vertreter der Inquisition, und dieser rationale Irrsinn ist durchaus anschaulich beschrieben. Alina aber wird nicht aufgeben, ihr Freiheitswille und ihr Gerechtigkeitssinn sind zu groß. Außerdem wird ihre Lage nach dem Tod des Ziehvaters immer bedrohlicher. Sie wird sich unsichtbar machen müssen, nur eben anders als bisher: „Und ich mach mich weg, jeden Tag mach ich mich weg.“

Die Klage, die Köhler hier anstimmt, ist arg simpel

Statt sich weiterhin wegzuducken, muss sie fliehen. Damit ist keineswegs zu viel verraten, denn Alinas Auf- und Ausbruch kommt alles andere als überraschend. Wie überhaupt vieles vorhersehbar ist. Das liegt vor allem an der Erzählperspektive, die von Beginn an zwischen krasser Naivität und kurios wortwitzigem Selbstbewusstsein changiert. Der Text behauptet einen Lernprozess, der auf sprachlicher Ebene nicht wirklich stattfindet – in figurenpsychologischer Hinsicht leider auch nicht. Die Ich-Erzählerin ist aus durchaus nachvollziehbaren Gründen vor allem mit sich selbst beschäftigt, nur eben ohne sich zu verändern. Selbst interessante Nebenfiguren werden nur schablonenhaft beschrieben.

Ein naiv-neugieriger Blick in die Welt verleitet dazu, alles auszuerzählen, keine Interpretationsräume zuzulassen. Das endet bei Köhler nicht selten im Banalen, manchmal auch im Kitsch, etwa wenn Alinas Freundin Sofia im Duktus eines Mama-Tochter-Gesprächs anschauliche Aufklärungsarbeit leistet und erklärt, wie frau sich selbst befriedigt. „Und wenn es dir gefällt, dann wirst du hier feucht, in der Tiefe feucht, da, schau, da kannst du auch mit dem Finger hinein, und dann wieder über die Knospe reiben. So. Ganz wie du magst.“ Für wen und welche Altersgruppe sind solche Zeilen geschrieben? Und wie passen sie zur Miroloi-Anlage? Ein Gesang ist eben kein Roman, und wenn ständig wiederholt wird, wie wütend Alina auf das Dorf und seine Gesetze ist, mag das in einem liturgischen Kontext vielleicht einen Sinn ergeben, im Roman jedoch stellt sich Langweile ein. Zumal die literarische Ödnis dazu verleitet, weitere Grundsatzfragen zu stellen.

Wie kommt es überhaupt, dass die Dorfgemeinschaft zwar Kontakt mit Händlern der Außenwelt pflegt, dass Waren wie Fernseher und Telefone angeboten und vom Dorfvorstand abgelehnt werden können, dass aber nie ein Betbruder sich im Schiff des Händlers versteckt, um in die schöne neue Welt zu segeln? Oder eine der unterdrückten Frauen trotz schlimmster Strafen das Weite sucht? Ungeklärt auch, warum im Gegenzug keine staatliche Macht die mittelalterlichen Praktiken auf der Insel unterbindet?

Das ist alles so unwahrscheinlich, und selbst als literarische Zukunftsvision, die mit Regressionen in die düsterste Vergangenheit spielt, nicht wirklich plausibel. So verfehlt die überdeutliche Kritik am Patriarchat ihr Ziel, denn über die komplizierten Geschlechterverhältnisse unserer Zeit vermag die allzu simpel gestrickte Klage über die Barbarei religiöser Fanatiker nur wenig auszusagen.

Carsten Otte

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