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Nur den wenigsten Figuren aus Melvilles „Bartleby“ (hier v.l. Henning Strübbe, Jonas Götzinger, Marie-Therése Fischer) gelingt es , aus dem Hamsterrad auszubrechen. 

© Thomas M. Jauk

Melvilles „Bartleby“ am Hans Otto Theater: Um sich selbst kreisender Gedankenzirkus

Nina de la Parra präsentierte in der Reithalle eine zeitgemäße, aber kaum aufrüttelnde Version von Melvilles „Bartleby“.

Potsdam - Was für ein Text, diese Novelle „Bartleby, der Schreiber“, die Hermann Melville 1853 verfasste. In der das Schicksal eines sonderbaren Kopisten von einem alten Kanzleibesitzer erzählt wird. Und die seitdem unzählige Kulturkritiker und Philosophen dazu bewegt hat, sich mit der sanftesten aller Verweigerungs- und Protestformeln „Ich möchte lieber nicht“ auseinanderzusetzen.

Ganz anders als die 2016 aufgeführte Version des „Bartleby“ von der freien Theatergruppe „Ton und Kirschen“ aus Glindow geht die Regisseurin Nina de La Parra mit dem Bartleby-Stoff um. In ihrer mit allen Beteiligten gemeinsam erarbeiteten Collage, die am Samstagabend in der Reithalle des Hans Otto Theaters Premiere hatte, steht kein (historisches) Büro auf der Bühne. Sondern riesige, wild in der Gegend platzierte, graue dreidimensionale Buchstaben: T, H, B, I und C, aus denen sich genau ein Wort bilden lässt: Bitch.

Was will das Leitungsteam, das nur aus Frauen besteht, damit aussagen? An den Buchstabenplastiken lehnen oder stehen Musikinstrumente und aus dem wie ein Bartresen anmutenden C im Vordergrund ragen Frauenbeine mit rosa High Heels heraus. Das Bühnenbild und die bonbonfarbigen Kostüme von Carla Friedrich bieten schicke Oberflächen an. Zu Beginn als das Publikum hereinkommt, erklingen – wie zum Aufwärmen – lateinamerikanische Rhythmen. Die Show kann beginnen. Und das tut sie auch, als Showmaster Jörg Dathe in lila Hosen, blauem Jackett und pinkfarbenen Schuhen, zeitgemäß denglisch mit starkem niederländischen Akzent radebrechend den knapp zweistündigen Abend effektvoll einläutet. Er wird in dessen Verlauf mehrere Male Bezug auf den ursprünglichen literarischen Text nehmen und die Handlung der Melville-Novelle zumindest holzschnittartig zusammenfassen. Aber viel mehr als die Verweigerungsformel „Ich möchte lieber nicht“ hat die Inszenierung von Nina de La Parra daraus nicht entnommen.

Eine ermüdende Melange

Schon gar nicht den konsequenten Ernst, mit dem der berühmte Schreiber nicht nur seine Arbeit, sondern letztendlich auch sein Leben aufgibt. De la Parras Inszenierung ist eine überwiegend unterhaltsame, manchmal auch ermüdende Melange aus Showelementen, Welterklärungstheater und modernen Workshop-Methoden. Aus der Frage: Was hat „Ich möchte lieber nicht“ mit mir selbst zu tun? destillierte das elfköpfige und Generationen-gemischte Ensemble unzählige Themen heraus: Von Klimawandel über Homosexualität und Polyamorie über unbezahlte Praktika in Werbeagenturen bis hin zu Veganismus und DDR-Vergangenheit war eigentlich (fast) alles dabei. Und mäanderte so durch den schillernden, ironisch gemeinten Abend. Den der Schauspieler Jonas Götzinger, in der zweiten Hälfte mehr als der Showmaster, mit Schweizer Dialekt und ebensolchem Temperament – auch als Zeitenspringer – zusammenhielt.

Die beiden, mit leicht sächsischem Zungenschlag von Bettina Riebesel und Jörg Dathe vorgetragenen DDR-Episoden zeigten – wieder einmal – nur die finstersten Kapitel aus der Vergangenheit, wie militärischen Drill im Sportunterricht oder sexuelle Übergriffe auf eine Sechsjährige in der übervollen Gemeinschaftswohnung. Das ist zwar eindrucksvoll, aber nicht nur auf dem Theater einseitig. Denn eigentlich geht es doch um etwas ganz anderes. Dieses Andere schimmert auch in der übervollen Performance von Nina de la Parra auf. Nämlich die Frage: Wie wollen wir leben in einer Gegenwart/Zukunft, in der das kapitalistische (Wirtschafts-)System an seine natürlichen Grenzen gekommen zu sein scheint?

Sehen so Verweigerung und Protest aus?

In dieser Bartleby-Version formiert sich das zu einem endlosen, doch letztlich ermüdenden Wortschwall, der in der knalligen Showatmosphäre wirkungsvoll ausgestellt wird. Das passiert auch in der Spielszene zwischen Bettina Riebesel und Marie-Therése Fischer, die die Menge an Therapiemöglichkeiten, die modernen Menschen heute zur Verfügung stehen, um die innere Leere ertragen zu können, präsentieren. Auch das wird einem heutzutage in fast jedem Medium um die Ohren gehauen und ist somit entlarvend.

Und am Ende? Nur eine (Alina Wolff) sucht mit „Ich bin raus!“ einen Weg aus dem um sich selbst kreisenden Gedankenzirkus und bricht durch die hölzerne Bühnenrückwand krachend ins „Freie“, das hier ein grauer Gang mit ebensolchen Stühlen ist. Davor wird das ganze absurde Theater immer mal wieder auf die vermeintliche Spitze der Empörung getrieben. Ein cleverer Hartz-IV-Empfänger hat sich in seinem Leben schon 30 Jahre eingerichtet und möchte gar kein anderes. Und Henning Strübbe will sich ausgerechnet in einen Kater verwandeln, um so seinen ökologischen Fußabdruck zu verkleinern.

Sehen so Verweigerung und Protest mehr als 150 Jahre nach Melvilles vielschichtiger Novelle aus? Schade eigentlich, dass der „Menschheit“ nicht einmal mehr auf dem Theater etwas wirklich „Originelles“ oder wenigstens „Poetisches“ dazu einfällt. Aber vielleicht reicht es ja auch – beim sprichwörtlichen Untergang der Titanic – noch einmal inbrünstig wie die Alten „Gracias a la vida“ zu singen? Oder wie die Jungen, die den ganzen Rede-Zirkus satthaben, endlich auf die Straße zu gehen. 

Astrid Priebs-Tröger

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