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Kultur: Mädchen stehen nicht auf Gedichte

„Frühlings Erwachen“: Sommertheaterwerkstatt über Liebe und Sexualität im T-Werk

Vor mehr als einhundert Jahren entstand Frank Wedekinds Drama „Frühlings Erwachen“. Heutzutage ist es kaum noch vorstellbar, dass dieses Stück, in dem sich Jugendliche über ihre sexuellen Bedürfnisse und Nöte austauschen, lange Zeit als pornografische Provokation von der Zensur verfolgt wurde. Denn nicht nur im Internet gibt es mittlerweile bereits für Schulkinder die „totale Aufklärung“. Und dennoch verwundert es nicht, dass dieses Stück von Wedekind auch heute noch Jugendliche in seinen Bann zu ziehen vermag.

Acht Spieler im Alter von 17 bis 23 Jahren haben sich jetzt während einer Sommertheaterwerkstatt unter der Leitung der Theaterpädagogin Yasmina Ouakidi mit der berühmten Stückvorlage auseinandergesetzt. Mithilfe von Improvisationen und der Auseinandersetzung mit modernen Medien erforschten sie, wie sich Wedekinds Figuren heutzutage verhalten würden. Am Freitagnachmittag präsentierten sie die Ergebnisse ihrer Spurensuche unter dem Titel „Frühlings Erwachen“ oder „Alles Porno oder was!“

Gleich zu Beginn sitzen alle auf der Bühne und zitieren Tagebucheinträge: „Ich will jemandem unter die Haut gehen“, „Warum bin ich auf der Welt?“ und „Alles wird kälter um mich“ ist da zu hören. Und diese Eintragungen könnten auch vor einhundert Jahren gemacht worden sein. Doch dann wird schnell klar, dass wir uns im Hier und Heute befinden. Zwei Mädchen reden über das erste Mal, von zu viel Alkohol und anschließendem Erbrechen ist die Rede, und dass man im Badezimmer dann miteinander Sex gehabt hätte. Der sei ohnehin ein Spiel und selbst Lehrer würden sich sexuell übergriffig gegenüber ihren Schülerinnen verhalten.

In den sich anschließenden kurzen Szenen werden „zarte“ Annäherungen versucht. Aber auch hier wird klar: Nichts ist mehr wie es war. Vor allem die jungen Frauen haben sich aus ihren früheren Rollenzuweisungen weit entfernt. Sie sind es, die deutlich sagen, was sie wollen und auch ganz direkt den „Beschluss fassen, sich zu verlieben“. Das sich der Auserwählte dann doch nur für die Englischvokabeln interessiert, macht die Kontaktaufnahme leider unmöglich. Aber auch zwischen der mondänen Blondine und dem schüchternen Jungen in der nächsten Szene funkt es nicht. Das mag nicht nur daran liegen, dass sie eine coole Erotiknummer wie aus dem Privatfernsehen abzieht. So genannte starke Mädchen mokieren sich auch über klischeebeladene Männerbilder und für Gedichte schreibende Jünglinge haben sie nur eine Antwort: Mädchen stehen nicht drauf.

In der halbstündigen Szenenfolge kamen viele Probleme heutigen Jungseins zur Sprache. Und trotz viel mehr Aufklärung und nahezu grenzenloser Freiheit wurde deutlich, dass die „wirkliche“ Liebe dann doch gar nicht so leicht zu haben ist. Das wurde flott erzählt und besonders in den knappen Zweierszenen eindrücklich in Szene gesetzt. Stücke von Björk, Feist und Goldwrap sowie schnittige Choreografien gaben dem Ganzen einen zeitgemäßen Rahmen. Und doch fragt man sich, warum eigentlich so wenig von den jugendlichen Protagonisten selbst zu sehen war. Denn eine Theaterwerkstatt könnte dem Vorgang des Suchens und Experimentierens durchaus einen höheren Stellenwert auch in der Präsentation einräumen.

Astrid Priebs-Tröger

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