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Lyrik und Journalismus: Lieber unperfekt

Gerrit-Freya Klebe kritisiert mit ihrer Lyrik den Idealisierungswahn der Medienwelt - und fürchtet, dass der Blick aufs Handy die Aufmerksamkeit von schönen Kleinigkeiten in der Umgebung ablenkt.

Von Sarah Kugler

Potsdam - Das Schneewittchen von heute wäre ein Instagram-Star und eine moderne Belle würde nicht vor dem Biest fliehen, sondern im Schloss bleiben und einen YouTube-Kanal betreiben. So stellt sich das zumindest die junge Lyrikerin Gerrit-Freya Klebe vor. In Texten wie „Modern Fairytales“ reflektiert sie die Jugendtrends der Gegenwart in einer klaren, modernen Sprache. Unverschnörkelt reiht sie die Worte aneinander: Metaphorische Wortspiele oder blumige Bilder gibt es bei ihr nicht. Doch gerade das macht die Stärke ihrer Texte aus – und hat der 20-jährigen Potsdamerin bereits vier Mal einen Preis des Bundeswettbewerbs für junge Lyrik „lyrix“ eingebracht. Jeden Monat können Lyriker zwischen 10 und 20 Jahren dort zu einem vorgegebenen Thema Gedichte einreichen. Es werden monatlich sechs Gewinner ausgewählt, daraus wiederum zwölf Jahresgewinner. Diese werden nach Berlin eingeladen, um dort ihre Texte vor Publikum vorzutragen.

Gerrit-Freya Klebe gewann 2016 den Jahrespreis. Den letzten Monatspreis im Mai dieses Jahres erhielt sie für die besagten „Modern Fairytales“, in denen Schneewittchen den vergifteten Apfel mit dem für Instagram so typischen Hashtag „#foodporn“ versieht und mit der bösen Stiefmutter erst mal ein Selfie schießt. Eine Kritik an den sozialen Medien? „Definitiv“, sagt Klebe, die derzeit eine Ausbildung zur Journalistin an der Axel Springer Akademie in Berlin absolviert. Sie fände es schon traurig, dass viele junge Menschen und vermehrt auch die ältere Generation ständig mit dem Handy etwas aufnähmen oder Selfies schössen. „Oft geht dabei völlig der Blick für schöne Kleinigkeiten oder einfach die Umgebung verloren.“

Mini-Interviews mit Holocaustüberlebenden auf Snapchat gewinnen Preis für herausragende journalistische Arbeit

Warum sie das Sujet Märchen als Aufhänger für ihre Kritik gewählt hat, kann sie nicht wirklich sagen. Vielleicht, weil es vielen Menschen nahe ist, überlegt sie. Vielleicht aber auch, weil die Diskrepanz zwischen Märchen und Technik ein wenig ihr eigenes Wesen widerspiegelt. Das siedelt sich irgendwo zwischen moderner Medienwelt und altmodischer Romantik an – und zeigt sich schon in ihrem Erscheinungsbild. Zu dem modernen schwarzen Rock und flachen Schuhen trägt sie eine zarte Perlenkette. Dunkelrot geschminkte Lippen lassen ihr Gesicht älter wirken, die blonden Haare sind glatt gestylt, wie es gerade Trend ist. Sie könnte eines von vielen Instagram-Selfie-Girls sein, die analoge Kamera in ihrer Hand verweist aber schon auf das Gegenteil.

Tatsächlich nutzt sie als Journalistin natürlich die sozialen Netzwerke: Facebook, Twitter, LinkedIn oder auch Snapchat. Auf Letzterem hat sie gemeinsam mit Kollegen etwa kurze Mini-Interviews mit Holocaustüberlebenden geführt. Das Projekt wurde mit dem Nannen Preis, der herausragende Arbeiten im deutschsprachigen Journalismus würdigt, ausgezeichnet. Als Lyrikerin jedoch sei sie vollkommen altmodisch. Alle Texte entstehen in Notizbüchern – zunächst hingeworfen, später noch einmal sauber in ein anderes Heft übertragen. Die Kunst des Schreibens ist bei ihr Handwerk und bleibt größtenteils privat.

Die tiefere Botschaft erschließt sich oft erst am Ende

Auf ihrem Blog „Klebe-Notizen“ teilt sie zwar einige Texte und Bilder, nicht aber auf den anderen sozialen Plattformen. Und die besonders persönlichen behält sie ganz für sich. „Meistens kommen die auch nicht so gut an, weil der Kontext nicht verstanden wird“, so Klebe. Einen der Texte zeigt sie trotzdem. Er ist ihrem Großvater gewidmet, der vor einigen Jahren starb und dessen Tod in ihr das Bedürfnis geweckt hat, sich lyrisch auszudrücken. Klebes Sprache ist auch hier klar und unverschnörkelt, jedoch emotionaler und langsamer im Rhythmus. In dem Märchentext oder auch in einem Gedicht mit dem Titel „Spielzeit“, das gekonnt das Spiel der Liebe mit dem Ton eines Fußballberichtes verknüpft, dominiert ein schnelles Erzähltempo. In „Gute Verbindung“ – so der Titel des privaten Textes – jedoch ist es deutlich entschleunigt. Die Sätze sind stakkatohaft, erwecken zunächst den Eindruck eines Telefonats oder einer WhatsApp-Kommunikation. Erst am Ende wird klar: Das lyrische Ich spricht mit einem Grab. Die letzten Worte „Dieser große Stein verschluckt meine Worte. Er lächelt nur wissend. Und schweigt“ hallen noch lange nach.

Überhaupt ist es eine Stärke von Klebes Texten, zunächst Banales vorzugaukeln. Die tiefere Botschaft erschließt sich oft erst am Ende. Was nach Konzept klingt, entstehe meistens intuitiv, wie Klebe sagt. „Oft weiß ich am Anfang des Textes nicht, wohin er mich trägt“, erzählt sie. Wenn sie von ihren lyrischen Texten spricht, klingt ihre Stimme nachdenklich, ein wenig schüchtern. Der Blick scheint nach innen gekehrt. Ganz anders, wenn sie von ihrer journalistischen Arbeit erzählt. Dann ist sie ganz Profi, spricht noch etwas zurückhaltend – „sie lerne ja noch“ –, aber mit fester Stimme. Klebe als Journalistin, die als Schülerin auch ein Praktikum bei den PNN absolvierte, weiß genau, welche Geschichten sie erzählen möchte. Von Menschen im Alltag: dem Feuerspucker, den Mädchen mit der Lichtallergie, vom Ungestellten, Unperfekten. In ihrer Lyrik findet sich dieser Aspekt auch. Perfektionismus hingegen taucht nur auf, um Kritik am Selbstdarstellungswahn zu üben. Im Vordergrund steht die Rückbesinnung auf eine analoge Welt mit einem selbstbestimmten lyrischen Ich. Das Schneewittchen mit dem idealen Instagram-Gesicht interessiert nur als Projektionsfigur.

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