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Lutz Seiler

© PNN / Ottmar Winter

Lutz Seiler schreibt an Theodor Fontane: "Lehrer Ergenbrecher war mit ,John Maynard' unerbittlich"

Der Potsdamer Schriftsteller Lutz Seiler erinnert sich an seine Kindheit, als er ein Gedicht von Fontane auswendig lernen musste. Und schreibt ihm dazu ein eigenes.

Lieber, sehr verehrter Kollege!

Danke für Ihre wie immer tief beeindruckenden Zeilen aus dem Krieg, vor allem aber für Ihre wunderbaren Erinnerungen – ja, man hatte es nicht immer so ganz leicht in der Kindheit. Bitte entschuldigen Sie, dass ich so lang schon nichts mehr von mir hören ließ; ich war tatsächlich krank. Eine schwere Grippe, von unsäglichem Kopfschmerz begleitet, ich schrieb keine Zeile, tagelang nicht, aber kein Wort mehr darüber! Heute Morgen, als ich erwachte, war es besser, noch nicht gut, aber doch gut genug, um meine Briefschuld endlich einzulösen und auch meinerseits, wie von Ihnen so freundlich erbeten, eine Kindheitserinnerung vorzutragen, und ich darf sagen, dass ich das schon sehr genieße, denn diese Geschichte hat mit Ihnen zu tun:

Ein Sonntagvormittag vor 35 Jahren konnte so beginnen: Ich erwachte und mein erster Gedanke war „John Maynard“ – das Gedicht (ja, Ihr Gedicht, lieber Kollege), das ich an diesem Tag würde auswendig lernen müssen, das heißt, zuallererst dachte ich an Ergenbrecher, unseren Lehrer für Deutsch. Ihm und der ganzen Klasse musste die Ballade vom Schiffbruch auf dem Eriesee vorgetragen werden (ist das schön zu hören?). Vielleicht fragte ich mich einen Moment, warum wir ein Gedicht über einen Schiffbruch in Amerika auswendig lernen sollten. Dass man nicht Buffalo sagt („u“ gesprochen wie geschrieben), hatte Ergenbrecher uns beigebracht. „Noch zwanzig Minuten bis Buffalo.“ „Noch fünfzehn Minuten bis Buffalo“ und so weiter – so heißt es im Gedicht. Dann fiel mein Blick sicher auf den Wecker neben dem Bett mit dem Zifferblatt, das im Dunkeln leuchtete. Also nahm ich den Wecker vom Nachttisch und kroch damit unter die Decke. Die Ziffern und auch die Zeiger leuchteten grün. Nach einer Weile presste ich das Gehäuse ans Ohr, das Metall war angenehm glatt und kühl auf der Haut. Je tiefer ich mich eingehört hatte in den Gang der Uhr und die unglaubliche Vielzahl der feinen metallischen Nebengeräusche (tatsächlich hörte man mit der Zeit so gut, als säße man mitten in ihrer Mechanik), je tiefer ich also eindrang in den Gang der Uhr, umso seltsamer und unregelmäßiger erschien mir ihr Rhythmus. Es gab schnelle, betonte, aber auch ganz oberflächliche Schläge; es gab langsame Schläge, so langsam, dass man glaubte, den Atem anhalten zu müssen und die Uhr einem fast das Herz stillstehen ließ.

Schon als Kind war ich sicher, dass Uhrwerke eigenen Melodien folgen, es gab einen Geheimniszustand der Uhr, ein „Geheimherz“, wie Canetti es nannte.

Hatte ich mich sattgehört an meinem Wecker und war wieder aufgetaucht aus meiner Höhle, fielen mir auch John Maynard und Ergenbrecher wieder ein:

„Noch da, John Maynard?“ Und Antwort schallt’s

Mit ersterbender Stimme: „Ja, Herr, ich halt’s!“

Und in die Brandung, was Klippe, was Stein,

Jagt er die „Schwalbe“ mitten hinein,

Soll Rettung kommen, so kommt sie nur so.

Rettung: der Strand von Buffalo.

Indem ich in die Küche schlich und mir ein erstes Frühstück aus trockenem Brötchen und Bautzner Senf ins Bett holte, konnte ich den Schiffbruch der „Schwalbe“ und die einsame Rettungstat des Steuermannes John Maynard (die Sie so beeindruckend beschrieben haben, lieber Kollege) vielleicht noch einmal verdrängen, aber spätestens am Frühstückstisch kam die Frage auf, wie weit ich eigentlich mit dem Gedicht sei. Nachhilfe in Mathematik gab mein Vater, an ebenfalls sehr langen, um nicht zu sagen endlosen Sonntagvormittagen, das Auswendiglernen von Gedichten hingegen wurde von meiner Mutter beaufsichtigt.

Dieses Auswendiglernen war damals selbstverständlicher Bestandteil des Unterrichts. Ergenbrecher gab zwei Noten – eine für die Textsicherheit und eine für den Ausdruck. Bei dreißig Schülern in der Klasse hatte man den „John Maynard“ neunundzwanzig mal gehört und einmal selbst gesprochen. In Wahrheit hatte man ihn natürlich noch viel öfter gehört, weil bei Ergenbrecher, der gerade mit „John Maynard“ unerbittlich war, jene Schüler, die steckenblieben beim Vortrag, von Deutschstunde zu Deutschstunde neu antreten mussten, und zwar so lange, bis sie den Text von Anfang bis Ende aufsagen konnten. Das war keine Kulanzregelung, denn bei jedem erneuten Versagen gab es zwei Fünfen – eine für „Inhalt“ und eine für „Ausdruck“. Andreas Michel, ein Schüler, der es ohnehin nicht sehr leicht hatte in unserer Klasse, sammelte auf diese Weise so viele Fünfen, dass er Deutsch glatt mit Fünf abschloss, damit das zweite Mal sitzen blieb und daraufhin ohne Abschluss die Schule verließ. Man könnte sagen, Michel sei an Maynard gescheitert, der doch eigentlich ein Retter war und sein Leben gegeben hatte für die Passagiere auf dem Eriesee. Aber natürlich war es Ergenbrecher gewesen, und ich und wir alle hatten Angst vor Ergenbrecher, und also lernte ich das Gedicht – so lange, bis es saß.

Dass ich dabei mehr gelernt habe als zwei, drei Seiten Text, die ich im Schlaf hätte hersagen können, verdanke ich meiner Mutter. Ihr verdanke ich, dass mich die langen Gedichte tatsächlich berührten und auch „John Maynard“, verzeihen Sie, lieber Kollege, dass ich es so ausdrücke, mich leise erwischte und auf eine Weise im Gedächtnis blieb, dass ich bei einem Besuch am Eriesee vor einigen Jahren das Gefühl hatte, schon lange eine Beziehung zu haben zu dieser schönen fremden Gegend um die großen Seen zwischen den USA und Kanada. Aber in erster Linie ist das natürlich Ihnen zu danken, lieber Kollege, der sie selbst, wie ich kürzlich erfuhr, nie da gewesen sind. Wie interessant! Das ganze bewegende Stück über ein Schiffsunglück nur aufgrund eines Zeitungsberichts zu verfassen – mein lieber Scholli, das hat Größe!

Keine Ahnung, ob auch heute noch die langen Gedichte auswendig gelernt werden. Meine Mutter, die diese Erstbegegnung mit Poesie überwachte, hatte mir eine Technik des Auswendiglernens beigebracht – zuerst eine Strophe lernen, dann in die Küche zu ihr, die Strophe aufsagen, dann zurück ins Kinderzimmer, Strophe eins und zwei erlernen, zurück in die Küche, die Strophen eins und zwei aufsagen und so weiter! Ein regelrechtes Pendel war das und eine Mutter, wie sie Andreas Michel sicher entbehrte. Mit dem Üben lehrt die Mutter zugleich, dass diese, ihre Liebesgabe unvergesslich ist. Dazu, lieber Kollege, nun mein eigenes Gedicht:

geruch der gedichte

„schön konzentrieren bitte!“ das

war der tonfall unsrer langen

sonntagvormittage &

ihre lithurgie: handschuh, kraniche

des ibykus, john maynard

war unser steuermann, doch

meine mutter bestimmte den kurs:

zeile für zeile, name

des autors, überschrift, die kleine

pause & dann das gedicht:

enjambement, diesen ausdruck kannte

keiner, es gab nur den löffel

der mir diktierte, das wippen & nicken

über den töpfen mit klößen

& thüringer soßen, erst

die worte, dann die punkte („auch

die kommas hat der autor schließlich

nicht umsonst gesetzt“) & dann

die innere bewegtheit meiner mutter, die

mir vorsprach – ich

stand unter der küchentür, ich lernte das alles

von ihr: erst ohne betonung

dann mit

Ich bete, dass Sie kein Querschläger treffen möge und hoffe auf neue Kindheitsgeschichten! Wann erscheint Ihr neuer Roman? Das will wohl jeder wissen, bestimmt aber jeder hier bei uns in der Mark.

Gehaben Sie sich wohl, verehrter Kollege! Ihr alter

L. Seiler

Es schreibt heute:

der Schriftsteller Lutz Seiler, bekannt durch seine Lyrik und den Roman „Kruso“. Zuletzt sind seine acht Bildgeschichten „Am Kap des guten Abends“ erschienen. Lutz Seiler leitet das Literaturprogramm des Peter-Huchel-Hauses in Wilhelmshorst.

In seinem Brief an Fontane erinnert er sich an die Zeit unter der Bettdecke und wie ihn John Maynard leise erwischte.

Nächste Woche schreibt Alt-Bischof Wolfgang Huber.

Alle Folgen der Serie „Briefe an Fontane“ zum 200. Geburtstag des Schriftstellers lesen Sie auf www.pnn.de/themen/fontane

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