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Lutz Seiler in Potsdam: Höhlen der Verheißung

Lutz Seiler hat mit „Meine Wohnung“ eine Erzählung über die Träume der Wendezeit geschrieben. In der Fachhochschule las er daraus – und sprach über Hausbesetzungen und die Begabung zum Scheitern.

Potsdam - Mietskaserne. Kein Wort, das träumen lässt, sollte man meinen – zumindest für die nicht, die einmal darin lebten. Enge Treppenhäuser, dunkle Hinterhöfe, vielleicht auch Ratten im Keller. Für den Ich-Erzähler in Lutz Seilers Text „Meine Wohnung“ jedoch ist die Mietskaserne nichts weniger als betörend. Eine Sache, die sich als Wort „ins Ohr schlich“ und dabei zu etwas anderem wird, zu „einem Schiff auf dem geträumten Meer dieser Stadt, das hier und nirgendwo sonst zuhause sein wollte, ankern konnte, das vertriebene Leuchten unter dem Segel ihrer Herzen...“

Wir befinden uns in Ostberlin, Januar 1990. Seilers namensloses Erzähler-Ich durchstreift die Hinterhöfe des Bezirks Friedrichshain auf der Suche nach einer Wohnung, seiner Wohnung, einer Bleibe für sich und seine Liebste C. Noch sitzt C. mit Kind im Wohnheim in Leipzig fest, auf der Mütteretage. Berauscht von der Liebe zu C. und der eigenen Kraft besetzt der Erzähler, der eigentlich Dichter sein will, schnell hintereinander in Ostberlin drei Wohnungen. Er braucht nur eine, doch egal: Es ist ein Triumph. Dieser Moment des Triumphs, dieser Allmachtsglaube, dem bereits eingeschrieben ist, dass er sich nicht wird halten können: Er ist das Thema von Seilers Erzählung.

„Man braucht Figuren mit der Begabung zum Scheitern“, sagt Lutz Seiler, nachdem er gestern in der Fachhochschule seine Erzählung vorgetragen hat. Eingeladen hat ihn Hendrik Röder, der das Brandenburgische Literaturbüro leitet und an der Fachhochschule als Gastdozent das Seminar „Der Literaturbetrieb: Seine Protagonisten, Regeln und Präsentationsformen“ gibt. Zwölf Uhr mittags, ungewöhnlich früh für eine Lesung, wie Lutz Seiler bemerkt. Aber: „Wenn mein Freund Hendrik ruft, bin ich natürlich da.“

Draußen die noch fast geschichtslosen Neubauten des Unigeländes, noch geben die Bäume vor den hohen Fenstern den Blick frei. Bald wird der Blick zugewuchert sein, die Gebäude werden jene Patina bekommen, die Gebäude brauchen, damit man weiß: Hier arbeitet wirklich jemand, es ist keine Kulisse.

Das schäbige Ostberlin der frühen 1990er Jahre wirkt hier doppelt weit weg. Die Studierenden müssen sich gedanklich bis nach Breslau tasten, um die rissigen Fassaden, die dunklen Höfe, die Seilers Text beschreibt, wiederzufinden. Die Welt, die sie kennen, ist weitgehend glatt, und mit dem Umzug vom Alten Markt auf das großzügige Campusgelände am Stadtrand ist sie noch etwas glatter geworden. Hausbesetzungen gibt es allerdings auch heute noch: Auch in der Potsdamer Fachhochschule versuchte man sich vor ziemlich genau einem Jahr noch einmal daran – um die Räumung zu verhindern.

Mit dieserart politischem Aktivismus hatten die Besetzungen, die Lutz Seiler beschreibt, wenig zu tun. „Uns ging es um ganz banale Bedürfnisse“, sagt Lutz Seiler auf die Frage, ob die Besetzungen, die er thematisiert, politisch motiviert waren. „Was ich tat, war notwendig und gerecht“, heißt es in Seilers Text. Die Wohnungen werden als „Höhlen“ beschrieben, „in die man sich verkriechen konnte, um von dort aus, gut verborgen, der neuen Welt den eigenen Anteil abzutrotzen: graue, backsteinernde Höhlen der Verheißung“.

Seiler selbst lebte zwei Jahre lang ohne Mietvertrag im Friedrichshain, dann wurde das Mietverhältnis legalisiert. Man suchte Raum für sich, und man nutzte den Raum, den es gab, ohne viel Gewese. So einfach. Lutz Seiler liegt daran, zu unterscheiden: Er besetzte Wohnungen, keine Häuser. Das Ich in seiner Erzählung will kein Statement machen, will niemandem außer sich selbst etwas beweisen – und C. natürlich: „Ich war der Mann mit dem Werkzeug.“ Als C. bei einer Besetzung dabei ist, lässt er das Aufbrechen der Tür extra schwer aussehen.

Die fremden Räume, die sich Seilers Erzähler erobert, füllt er bis zum Platzen mit Projektionen der Zukunft, die er hier schon stattfinden sieht. Seine Liebste C. hat die Räume noch nicht einmal gesehen, aber er sieht hier schon ihr gemeinsames Leben: „Ich sah uns in einem Zimmer bei der Arbeit, ich sah den Tisch, wo die Zigaretten lagen, wo der Wein stand, wo man sich in Abständen ein Glas eingoss (...) Ich sah Szenen großer Wärme und Gemeinsamkeit, ich sah mehr als Liebe, falls das möglich ist, ich sah Freundschaft, Sex, Arbeit, wir waren Gefährten und gemeinsam würden wir es schaffen, wir würden Künstler sein.“

Dazu wird es nicht kommen. Die Realität ist sperriger als die Träume. Wo in der Fantasie nur die Liebe war, ist in Wirklichkeit noch ein Kind – und die anderen, Übergangenen, denen die Wohnungen einst gehörten. Seilers Figur scheitert – ja, woran eigentlich? An seinen Träumen, seiner Naivität? In jedem Fall an der Realität. Sie ist gebrechlich und trägt den Körper einer alten Frau.

Der wohnungsbesetzende Dichter in Seilers Erzählung kommt alles in allem nicht besonders gut weg. Er ist ziemlich selbstüberhoben, durch millimeterweise Ausflüge ins Groteske oder Ironische hält Seiler sich ihn, wie die Zeit insgesamt, vom Leib. Was die Geschichte am wenigsten will, sagt Seiler, ist die Zeit nach der Wende verklären. „Meine Wohnung“ ist im Übrigen als ein Kapitel für den neuen Roman von Lutz Seiler konzipiert – aber nein, der Ich-Erzähler ist kein Nachwende-Ed, sagt der Autor. „ Ursprünglich sollte das eine Fortsetzung des ,Kruso’ werden, aber der Ansatz ist gescheitert.“

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