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Kultur: Lob des ungestörten Sitzens

Mit Hanns-Josef Ortheil beginnt die Lit:potsdam

Nichts als Notizen: Auf dem Tisch in der gut besuchten Villa Quandt, an dem Hanns-Josef Ortheil am Mittwochabend sitzt, liegen gleich mehrere Stapel davon. Die Hefte unterschiedlichen Formats sind wohl sortiert und, wie der diesjährige Writer in Residence der Lit:potsdam im Laufe seines Vortrags „Wie ich arbeite“ zeigen wird, allesamt dicht beschrieben. Dazu Fotos, meist Schnappschüsse, sauber eingeklebt. Außerdem einzelne Seiten, auch diese schwarz vor Worten, in Folien abgeheftet. Wäre die Handschrift nicht eine erwachsene, sähen die Blätter aus wie fein angefertigte Arbeiten eines Kindes. Und irgendwie sind sie das auch und erinnern an den Jungen, der Hanns-Josef Ortheil einmal war.

Bereits im Alter von acht Jahren, Ende der 1950er-Jahre, hat Ortheil mithilfe seines Vaters begonnen, Tageschroniken anzulegen – damals noch, so das Ansinnen des Vaters, damit das seit seinem dritten Lebensjahr verstummte Kind einen Zugang zur Welt und zu den Worten findet. In vielen seiner Bücher führt Ortheil diese Schreibschule aus, in der Villa Quandt liest er aus „Der Stift und das Papier“ Passagen dazu vor. Er führt dieses tägliche Schreiben bis heute fort – und wird es wohl so halten bis zum letzten Atemzug. Auch sein Schreibraum ähnelt dem in Kindertagen. Auf Fotos zeigt Ortheil das Wohnhaus seiner Eltern im Westerwald: nebenan die Jagdhütte, wo der Vater in den 1950er-Jahren gern trank, rauchte und „unglaublich laut Barockmusik hörte“. Zum Vergleich ein Foto mit dem heutigen Anwesen in Stuttgart an einem naturbelassenen Bahndamm. Die Anordnung ist dieselbe, ein Wohnhaus und nicht weit entfernt der „typische Isolationsraum“, „die moderne Variante der Jagdhütte“ – unten das Archiv, im ersten Stock schreibt der Autor.

So idyllisch das auf den Bildern anmutet, so existentiell notwendig ist für Ortheil das Schreiben. „Ich muss immer aus dem Wohnhaus in das Jagdhaus, dann klappt alles“, sagt er. Zwanghaft ist diese Verschriftlichung des Geschehens sicherlich. Aber sie hat auch etwas Leichtes, Müheloses, wie sie nur eine jahrzehntelang gepflegte Routine hervorbringen können. Er dokumentiere seinen Tagesverlauf, erzählt Ortheil, „die Eigenzeit“. Politische Dinge finden keinen Platz darin, Weltgeschichte sei langweilig. In unregelmäßigeren Abständen schreibe er ein Journal. So am 19. Juni, als er Ingrid Bergmann in Rosselinis Streifen „Stromboli“ gesehen hat, ein Film, der ihn weniger wegen der Geschichte aufgewühlt hat, sondern wegen der zarten Liebesbeziehung zwischen Schauspielerin und Regisseur, die er als Zuschauer auf der Leinwand spürte. Außerdem führt der Schriftsteller Tagebuch, nur „daraus würde ich nie etwas veröffentlichen“.

Diese auferlegte Pflicht, sich selbst und seine Umgebung genau zu beobachten und zu dokumentieren – und, nicht zuletzt, das viele Aufgeschriebene zu ordnen – ist in ihrer Radikalität großartig. Und grotesk zugleich: etwa, wenn Ortheil, unangepasst, wie er ist, auf seinen ICE-Fahrten das Handy-Gespräch eines Mitfahrenden im Großraumwaggon aufzeichnet und das Aufgenommene ebendort wieder abspielt. „Mit einem bösen, nein, netten Satz“ weise er dann den Telefonierer auf seine schriftstellerische Tätigkeit hin. Dieser verlasse umgehend den Großraum – und Ortheil hat wieder seine Ruhe.

Denn ungestört sein, vor allem ungestört sitzen, ist für ihn ein Lebenselixier. „Wenn so viele Eindrücke am Tag auf mich einprasseln, muss ich sitzen“, sagt der 65-Jährige. „So mal eine Stunde alleine sitzen, das ist medizinisch notwendig.“ Zum Ende des Vortrags hält Ortheil eine einzige Seite hoch, wieder dicht beschrieben, und liest vor. Es ist das erste Blatt der Reinschrift seines neuen Romans „Der Typ ist da“, der Ende August erscheinen wird.Grit Weirauch

Heute Abend um 19 Uhr findet im Park der Villa Jacobs eine Festveranstaltung mit Hanns-Josef Ortheil statt. Er spricht mit Dennis Scheck über „Was ich liebe und was nicht“

Grit Weirauch

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