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Literatur: Ein wahrheitsliebender Lügenbaron

Er drehte bei der Defa zwölf Filme, heute stellt Siegfried Kühn seine Satire „Die Erdorgel oder Wunderbare abgründige Welt“ vor.

Potsdam - Es ist eine „wahrheitsliebende Lügengeschichte“, die uns Siegfried Kühn da auftischt: abgründig und augenzwinkernd, wutschnaubend und selbstironisch. Und immer wieder ist man geneigt zu fragen: Stimmt das denn wirklich? Oder ist hier wieder der Lügenbaron auf der Kanonenkugel fabulierend unterwegs?

Siegfried Kühn, einer der eigenwilligsten Defa-Regisseure, der sich mit frauenstarken Filmen wie „Zeit der Störche“, „Das zweite Leben des Friedrich Wilhelm Georg Platow“ oder „Die Schauspielerin“ in die Filmgeschichte einschrieb, legt mit dem Buch „Die Erdorgel oder Wunderbare abgründige Welt“ nun eine autobiografiegetränkte und fantasiebetörende Collage vor, die es in sich hat. Und die heute im Filmmuseum als musikalische Lesung mit den Schauspielern Christian Steyer und Heidemarie Wenzel vorgestellt wird.

In raffinierter Erzählweise, die allerdings oft etwas unentschieden zwischen realer oder erfundener Welt mäandert, hält Siegfried Kühn braven „Parteisoldaten“ den Spiegel vor und schält in symbolträchtiger Überhöhung das Unwesen von Machtstrukturen heraus. Da gibt es zum Beispiel einen Filmminister, das „Zweigesicht“, der jede „Me-Too-Debatte“ neu anfeuern würde. Defa-Insider ahnen sicher, dass damit ein Herr Pehnert gemeint ist. Oder diese Frau Müller-Turgau – „wie der säuerliche Wein aus Österreich, nur ohne h“: eine „satirische Medienmacht“, die Künstlern das Fürchten lehrte. Seit sie das Sagen hatte, „wurde im Land lachend zensiert, zerlegt, zerfleischt, zermalmt“. Ein Narr, der glaubt, dass „Kino-Eule“ Renate damit gemeint sein könnte? „Die Handlung ist nicht frei erfunden, Ähnlichkeiten mit lebenden oder realen Personen wären dennoch rein zufällig“, heißt es im Vorwort. Damit ist der Autor fein raus und kann seinem Affen Ego Zucker geben.

Friedrich heißt dieses Alter Ego und ist kein Mann von Traurigkeit: ein Schürzenjäger und auch ein bestechlicher Zeitgenosse. Um an einem Filmfestival teilnehmen zu können, unterschreibt er eine Petition, die Biermann als Konterrevolutionär abstempelt. Wie viel Siegfried steckt nun in diesem Friedrich, wie viel Renate in Müller-Turgau, wieviel Lothar in „Manne“, dem linientreuen Pfarrer?

Es ist wohl auch etwas Abrechnung in dieser Satire dabei. „Ja, meine Wut steckt mit drin“, gibt Siegfried Kühn zu. Er selbst musste des Öfteren Kritik einstecken. Einiges geriet filmisch zu manieriert und abgehoben, anderes eckte politisch an. Einige Projekte durfte er nicht realisieren. Nach seiner öffentlichen Parteinahme für die polnische Solidarnosc-Bewegung stand er, der 1935 in Breslau Geborene, unter besonderer Beobachtung.

Kühn findet es durchaus gut, wenn man sich beim Lesen immer mal wieder fragt: „Stimmt das?“ Für ihn ist die satirische Überhöhung ein Weg, die Wahrheit nach vorne zu bringen. Auch bei seiner eigenen Person. „Ich habe natürlich nicht wie Friedrich gegen Biermann unterschrieben. Aber ich habe mich zweimal auf Auftragsfilme eingelassen. Für meinen Diplomfilm in Moskau und als Defa-Neuling für den Film ,Im Spannungsfeld’ über die wissenschaftlich-technische Revolution. Danach habe ich keinen mehr gemacht, der nichts mit mir zu tun hatte. Als die Defa-Zeit zu Ende war, bin ich nicht mit zugrunde gegangen.“ Nein, dadurch habe er endlich Zeit gefunden, sich mit dem literarischen Schreiben zu beschäftigen. Fast 20 Jahre habe es gebraucht, bis sein Buch auf den Markt kam. Lange suchte er nach einem Verlag, feilte immer wieder am Text. „Ein Satz muss stehen wie ein Baum. Und leicht sein.“ Rilke sei sein Lehrmeister und Kazantzakis. „Ist dieser ,Alexis Sorbas’ nicht toll: diese Szene, als seine mühevoll errichtete Seilbahn zusammenbricht und er zu tanzen beginnt?“ Und so ähnlich ging es ihm nach dem Defa-Aus. „Sie war etwas ganz Besonderes und das wusste ich. Im Westen hätte ich Filme wie ,Kindheit’ oder ,Don Juan. Karl-Liebknecht-Straße 28’ nie drehen können. Aber ich habe nicht gelitten, als sie zusammenbrach.“

Sein neues Lebenskapitel führte ihn tief hinab. „Soll sich dir das Wesen zeigen, musst du in die Tiefe steigen“, beginnt das Buch mit Goethe. Siegfried Kühn erlebte diese Welt unter der Erde tatsächlich: 1950 als Steigerlehrling, später als Bergwerksingenieur. Und sie wurde ihm zum künstlerischen Gleichnis. Der Bergbau war die Entdeckungsreise in die eigene Tiefe. Nicht nur weil sein Vater, ein Gärtner aus Eiche-Golm, „ihn wie einen Pfahl in die Erde schlug“, ihn, den ungewollten „Bastard“. „Der erste Mensch, den Friedrich bei Tageslicht sah, war der Teufel, verheiratet mit seiner Großmutter, seiner Oma-Mutter.“ Die war milde und gerecht und ihr ist sein Buch gewidmet. Unter ihrem Schutz verbrachte er die Kindheit in Schlesien und mit ihr flüchtete er 1945 nach Westberlin: zu seiner Mutter, die ihn einst mit Nadeln aus ihrem Bauch vertreiben wollte.

Bei Mutter und Stiefvater hielt er es nicht lange aus. Er fand auch keine Lehrstelle. Da hieß es: Geh doch in den Osten, da nehmen sie jeden. Also machte er sich mit 15 auf nach Eisleben, wurde Bergwerkslehrling und liebte es, sich mit 60 anderen in einem Schlafsaal Kissenschlachten zu liefern. Er mochte die geheimnisvolle Welt unter Tage, entdeckte dort auch die Erdorgel, einen kesselförmigen Hohlraum, der durch Verwitterung entsteht. Und als Defa-Regisseur Kurt Maetzig seinen „Ernst Thälmann“ am Schacht drehte und 1000 Komparsen in Bewegung setzte, war Friedrich fasziniert. Vielleicht war das mit ein Grund, zum Film zu gehen. Oder die Enge in der Provinz? Oder aber die Dunkelheit, die Bergwerk und Film verbindet. „Erst wenn das Licht angeht, beginnt das Leben.“

Jetzt bringt er schreibend ans Licht, was ihn im Leben beschäftigt. Nicht immer ganz organisch ist diese Reise zwischen Fiktion und Wirklichkeit. Der Anfang ist groß, dann holpert es mitunter. Aber es bleiben starke Bilder, so wenn er über die ungewollte Schwangerschaft seiner Mutter erzählt, von seiner Oma-Mutter schwärmt und darüber berichtet, wie eine Dorfgemeinschaft im Salzbergwerk versinkt. Dieses Abgeschottetsein: Kühns Metapher für den Mauerbau.

Wunderbare abgründige Welt. Diesen zweiten Teil seines Buchtitels habe er von Christian Steyer geschenkt bekommen: ein Satz von dessen Vater Gottfried. „Er gehört in Stein gemeißelt.“ Siegfried Kühn liebt solche Sätze. Und hält es weiter mit dem letzten Satz der „Erdorgel“: „Ich gehe in den Wald und schreibe mein Buch“. Als nächstes über eine Liebe im Kalten Krieg.

Buchpräsentation mit Siegfried Kühn, den Schauspielern Christian Steyer und Heidemarie Wenzel und der Autorin und Dramaturgin Inge Heym, heute um 19 Uhr im Filmmuseum, Breite Straße 1A

Siegfried Kühn:Die Erdorgel oder Wunderbare abgründige Welt. Verlag Neues Leben, 224 Seiten, mit Illustrationen von Ida Michel und Fotos von Dreharbeiten, 19,99 Euro.

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