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Kapitale Debatte. Eine Diskussion in der Kleist-Villa befragte Marx’ Thesen.

© dpa

Lit:potsdam: Muss Denken kalt sein?

Marxanalyse, zeitgenössische Dramatik, Lesekreise: Das Festival Lit:potsdam tastet das Potenzial von Literatur ab.

Karl Marx in der Villa von Kleist

Treffen sich ein Schriftsteller, ein Journalist, ein Volkswirt und eine Physikerin – so beginnen Humoresken, die im Zweifel ganze Familienfeiern vor dem Einschlafen bewahren. Tatsächlich handelt es sich dabei aber um das Personal der im Rahmen der Lit:potsdam stattfindenden Veranstaltung „Kapital und Gerechtigkeit“. Ort des Geschehens ist die Villa von Kleist, die zwar nicht mit dem nur wenige Kilometer entfernt durch eigene Hand verschiedenen Schriftsteller, dafür aber mit dem Baron Ewald Karl Heinrich von Kleist in Verbindung steht.

Im Ballsaal der 1997 durch das „Institute for Advanced Sustainability Studies“ (IASS) genutzten Anlage versammeln sich am 24. Donnerstagabend des Marx-Jahres 2018 der eidgenössische Schriftsteller Jonas Lüscher (zuletzt: „Kraft“), Armin Haas (IASS) und Jürgen Neffe (zuletzt: „Marx. Der Unvollendete“) sowie die studierte Physikerin Gesine Steudle (Global Climate Forum e. V.), die den Abend moderierte. Schmerzlich – wie noch zu sehen sein wird – vermisst wird der angekündigte, aber leider verhinderte Literaturwissenschaftler Joseph Vogl. Das Publikum rekrutiert sich aus älteren Herren, die allesamt aussehen, als engagierten sie sich im Lions Club sowie älteren Damen, die den Eindruck erwecken, regelmäßig mindestens sechsstellige Beträge für verschiedene Wohltätigkeitsorganisationen zu spenden, „aber gern anonym bleiben wollen“. Beste Voraussetzungen also.

Die Frage nach der Definition dessen, was Marx „Kapital“ nennt, eröffnet den Abend, die Diskutanten liefern, jeweils aus ihren Disziplinen kommend, mal mehr, mal weniger prägnante Antworten. Dabei fällt vor allem Haas auf, der mit der Präzision eines Zahlenmenschen sehr anschaulich die betriebswirtschaftliche Definition des Begriffs liefert. An einigen Stellen wird er dabei allerdings etwas zu didaktisch und der Zuhörer fragt sich, ob er das Podium mit dem Katheder verwechselt. Damit dominiert Haas die Diskussion und gibt deren Richtung vor: Hier geht es um Kapital, um Geld, um Investition. Flankiert wird dies durch anekdotische Berichte, die Jürgen Neffe einwirft, um so der rationalen Übermacht Haas’ Einhalt zu gebieten. Beide reden allerdings weniger miteinander als aneinander vorbei.

Auf der Strecke bleibt dabei der angekündigte Aspekt „Gerechtigkeit“, der lediglich am Ende von Lüscher touchiert wird. Hier wird das Fehlen Joseph Vogls, der dem Schriftsteller hätte Schützenhilfe leisten können, am deutlichsten. Denn wer Vogls Schriften kennt, weiß, dass er wie kein anderer versteht, sozioökonomische Zusammenhänge ästhetisch zu befragen, so die Methoden der Literaturwissenschaft für fremde Disziplinen nutzbar macht und komplexe wirtschaftliche Konzepte anschaulich vergegenwärtigt. Ohne ihn wird die Diskussion zum Expertengespräch unter Ökonomen, das am Ende nicht mehr viel mit Literatur zu tun hat.

Dass die Diskussion dennoch aus dem Ruder läuft, liegt in der Natur der Sache: Wie in der Literaturwissenschaft gibt es kein Richtig oder Falsch, dafür aber jede Menge Perspektiven. Am Ende stehen der Autor, der Journalist, der Volkswirt und die Physikerin in der Abendsonne und trinken Wein. Christoph H. Winter

„Next Stage Europe“ in der Reithalle

Was ist das nur für ein ungeheuerliches Format: Man nehme sich zwei Stunden Festivalzeit, dazu zehn Autoren aus den östlichsten und südlichsten Zipfeln Europas, löse aus fünf Stücken einzelne Szenen heraus, lasse diese von vier Schauspielern des städtischen Theaters in szenischen Lesungen auf eine Bühne bringen und bitte zwischendrin die weitgereisten Gäste in Kürzestinterviews Fragen zu beantworten wie: Wie lebt es sich eigentlich so als Theaterautorin in Aserbaidschan?

So sieht, in Kurzfassung, die Rezeptur für „Next Stage Europe“ aus, dessen zweite Potsdamer Ausgabe am Donnerstag auf die Bühne der Reithalle des Hans Otto Theaters kam. Den Rahmen dafür gab wie im Vorjahr Lit:potsdam ab, das Geld dafür das Auswärtige Amt, das Netzwerk das Goethe Institut. Es war dies die dritte Ausgabe des Kurzfestivals, der Auftakt fand 2016 am Deutschen Theater Berlin statt. Zu erleben waren in diesem Jahr Autorinnen und Autoren aus der Ukraine, Russland, Belarus, Georgien, Armenien – und Aserbaidschan.

Die größte Schwäche dieses Formats ist offenbar: Jeder und jede einzelne, zumindest doch jedes Land hätte einen eigenen Abend verdient. Um den Texten gerecht zu werden, und auch den Autoren. Die sperrten sich teilweise offensichtlich gegen das Korsett dieses eng getakteten, von den Autorenkollegen Michel Decar und Jonas Lüscher moderierten Abends, Guram Megrelishvili etwa, der sich in einer ausführlichen Ansprache auf Georgisch an das Publikum wandte (übersetzt wurde nur aus dem Russischen). In anderen Fällen hätte man offenbar mehr Zeit gebraucht, um zu interessanteren Antworten vorzudringen.

Das ist die eine Seite.

Die andere ist: Nur aufgrund dieser unmöglichen Überforderung aller (Künstler und Publikum gleichermaßen) ist es möglich, in zwei Stunden streiflichthaft in fernste Welten abzudriften: in die Untiefen georgischer Frauenfeindlichkeit („Y-Chromosom“ von Guram Megrelishvili), in die albtraumhaften Realitäten russischer Waisenkinder („Die Ferse“ von Eugène Ionov), in labyrinthische Zustände in der ukrainischen Provinz („Ihor und Roma“ von Oleksii Doychevskyi), in die Sprachlosigkeit zwischen Männern verschiedener Generationen im belarussischen Altenheim („Es flogen die Schaukeln“ von Konstantin Steschik) – oder in die Zukunftsvisionen eines neugeborenen Babys in einer belarussischen Geburtsklinik („Zusammen mit meinem Sohn habe ich die Kühe per Hand gemolken“ von Olga Prusak). Ein Höllenritt durch Sowjetvergangenheiten, tragikomische Realitäten, bedrückende Familiennähe, zu wenig Raum, zu wenig Geld. Vier Länder und mehr in zwei Stunden. Das ist die Stärke dieses Formats.

Und auch die Speed Dates mit den Autoren können Streiflichter mit Nachwirkung sein. Von der russischen Autorin Alexandra Salnikowa etwa war kein Stücktext zu hören, und auch auf die Frage, ob die Politik vor Theater in Russland denn wirklich solche Angst habe, wie es denn Anschein erwecke, wollte sie nicht recht antworten. Um dann aber doch zu sagen: „Kirill Serebrennikow muss befreit werden.“ Der russische Theatermacher und Leiter des Gogol Center in Moskau befindet sich derzeit, trotz starken, auch internationalen Protests, in Hausarrest. Solche politischen Repressionen fanden keinen eins-zu-eins Widerhall in den Texten von „Next Stage Europe“; stattdessen stellten sie Innenräume bloß. Dennoch: „Für nationalistische Propaganda-Zwecke lassen sich diese Stücke nicht gebrauchen“, kommentierte, völlig richtig, Dramaturg Christopher Hanf. „Anders als die WM.“ Auch die feierte am Donnerstag bekanntlich ihren Auftakt. In Moskau. Lena Schneider

Europas Geschichtenschatz in der SLB

Draußen ist es nicht heiß, aber auch nicht richtig kühl. Schwer zu sagen, wie man sich einem solchen Wetter gegenüber verhalten soll. Drinnen, im Gottfried-Benn-Raum der Stadt- und Landesbibliothek (SLB) im Bildungsforum sitzen mit Blick über den Platz der Einheit zwölf Literaturinteressierte, wenn nicht -begeisterte.

Einer von ihnen ist der Literaturvermittler und Moderator Thomas Böhm, der vor allem durch die wirklich wunderbare Sendung „Die Literaturagenten“ des rbb-Radiosenders „radioeins“ bekannt sein sollte. Böhm ist nach Potsdam gekommen, um die von ihm kuratierte und durch ganz Brandenburg führende Veranstaltungsreihe „Europa – ein Geschichtenschatz“ zu beginnen. Dafür ließ er sich von Autorinnen und Autoren aus ganz Europa die Stories ihrer Länder zusammentragen, darunter so bekannte Namen wie Sofi Oksanen und Janne Teller. Auf der am 26. Juni in Cottbus beginnenden Tour durch Brandenburg werden diese dann von ihm und seinen prominenten Gästen wie beispielsweise Jutta Hoffmann oder Norbert Leisegang (Keimzeit) vorgetragen, oder in kleinen Lesekreisen diskutiert.

So auch im Gottfried-Benn-Raum. Böhm begrüßt die Teilnehmer und beginnt sehr langsam, fast überdeutlich, die Geschichte „Tragödie“ des ungarischen Schriftstellers Zsigmond Móricz vorzulesen. Anschließend lässt er den Text auf die Anwesenden wirken, um dann im Tonfall Reinhold Beckmanns zu fragen, was an dieser Geschichte beachtlich ist und welche Eindrücke die Anwesenden ganz allgemein über sie sammeln konnten.

Die Idee dieser Lesekreise, wie Böhm sie veranstaltet, kommt aus Großbritannien. Dort führte die Anglistin Jane Davis 1997 erstmals Kurse durch, die sich explizit nicht der literaturwissenschaftlichen Lektüre literarischer Texte verschrieben, sondern das lesende Individuum und dessen Biografie mit dem, in der Gruppe laut vorgelesenen Text, in Kommunikation treten lassen sollten.

Dieses Format – Davis nennt es „shared reading“ – erinnert nicht grundlos an andere therapeutische Formate, die Literatur zu ihrem Gegenstand machen. Das „kreative Schreiben“ der 1980er und 1990er Jahre, aus dem heraus sich dann auch im deutschsprachigen Raum die universitären Schreibschulen entwickelten, ist ein solches Beispiel. Wie aber beim „kreativen Schreiben“ auch besteht die große Gefahr darin, die Texte übermäßig zu psychologisieren. Genau das passiert auch während der Diskussion des Textes in Böhms Potsdamer Lesekreis: Vom Autor geschaffene Leerstellen werden mit den Biografien der Anwesenden gefüllt, Metaphern und Bilder werden wie in Matura-Aufsätzen interpretiert und analytische Zugänge zum Text bleiben subjektiv und speisen sich vorwiegend aus der Lebenserfahrung der Beteiligten.

Dies alles ist so angedacht und stellt sicherlich eine innovative Art und Weise der Literaturvermittlung dar, weil sie sich an die Emotionen des Lesers wendet und ihn dadurch auf direktem Wege erreichen kann. Dass dies literarische Texte aber stark verklären und Literatur damit instrumentalisieren kann, ist die andere, gefährliche Seite dieser Methode. Gottfried Benn, dessen Schaffen in dem nach ihm benannten Raum ausgestellt ist, äußerte sich folgendermaßen zum Konnex von Emotion und intellektueller Tätigkeit: „Das Denken muss kalt sein, sonst wird es familiär.“ Christoph H. Winter

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Während Frank Schätzing am Sonntag um 11 Uhr im Hans Otto Theater aus seinem neuen Thriller „Die Tyrannei des Schmetterlings“ liest (Karten für 16/erm. 13 Euro sind noch erhältlich), und mit Literaturkritiker Denis Scheck über anspruchsvolle Unterhaltung spricht, eröffnet auf der Wiese zwischen dem Hans Otto Theater und der fabrik der traditionelle Büchermarkt

bei freiem Eintritt. Unter dem Thema „Brandenburg literarisch entdecken“ gibt es von 11 bis 17 Uhr eine Lesebühne und Mitmachaktionen. Regionale Buchhandlungen und Verlagepräsentieren ihr Angebot rund um das Buch. Weitere Entdeckungen verspricht der Bücher-Tausch-Tisch.

Am Sonntag um 14 Uhr geht es zudem Literarisch übers Wasser“: mit John von Düffel und seiner exklusiven Lesung an Bord der Motoryacht „Sunshine“. „Wir kehren immer zum Wasser zurück.“ Mit diesem Satz beginnt von Düffels Roman „Vom Wasser“, der ihn zu einem der bekanntesten Erzähler deutscher Sprache machte. Karten kosten 49 Euro inklusive Sektempfang an Bord. 

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