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Bei Next Stage Europe 2019 stellte Oksana Maslova ihren Theatertext "Stimmen im Kopf" vor.

© Helena Davenport

Lit:Potsdam: Leichenhausporno

Vier Theatertexte aus Osteuropa und Russland wurden bei dem Literaturfestival Lit:Potsdam vorgestellt. Das Konzept ging dabei nicht ganz auf.

Von Helena Davenport

Potsdam - Tick, tack, die Zeit läuft ab – und Tina hat nur zehn Minuten, um sich ihrem Gesprächskreis vorzustellen. Doch schon während sie beginnt auszupacken, ihre Trauer um den ermordeten Vater in Worte zu fassen, wird sie unterbrochen. Immer wieder. Von einem, der wohl mehr weiß als sie selbst. Dieser jemand scheint sich sogar mit einem anderen Teilnehmer verschworen zu haben, jedenfalls tauschen beide Insiderwissen aus und lachen über ihre Vergleiche. Denn plötzlich wird die tote Nachbarskatze erwähnt und so mit dem getöteten Vater in Verbindung gebracht. Und die Bedrängnis, die Tina empfindet, veräußert sich insofern, dass die Tür des Therapieraums verschwunden ist. Die Frau ist gefangen, und es macht weiter: tick, tack.

Komisch und ebenso berührend

Einsamkeit in der Gruppe, das Gefühl nicht eins zu sein mit dem Umfeld, Haltlosigkeit, aber auch Traumata, und eine damit verbundene innere Zerrissenheit, kurz: die Päckchen, die jeder allein tragen muss, kamen Donnerstagabend bei allen vier Texten von „Next Stage Europe“ vor. Zum dritten Mal waren junge Autoren aus osteuropäischen Ländern bei Lit:Potsdam zu Besuch, um ihre Texte nach einem Workshop mit dem Dramaturgen Christopher Hanf in einer szenischen Lesung vorzustellen. Letztere fand im Hans Otto Theater statt, die Ensemble-Mitglieder Jörg Dathe, Nadine Nollau, Bettina Riebesel und Henning Strübbe sorgten für ungeheuer komische und ebenso berührende Momente – gleich zu Anfang bei dem wunderbar schwarzen Satz „Wir alle sind ein Spiegel unserer Mutter“, oder kurz darauf etwa als geiler Leichenhaus-Mitarbeiter, später als Gothic-Mädchen. In rasantem Tempo wechselten sie die Charaktere, ihre Stimmfarben, von ernst auf witzig, von alt auf jung. Man fühlte sich schnell in den Stoff versetzt und von tollen, frischen Texten mitgerissen – wären da nicht die gähnend langweiligen Pausen gewesen.

Die Moderation zerstückelte den Abend

Wer hat sich dieses Format ausgedacht?, wollte man laut in die Reithalle hineinrufen. Was um 21 Uhr begann, endete um 23.30 Uhr, obwohl lediglich rund eine Stunde gelesen wurde. Dass es die Hälfte des Publikums bis hierhin aushielt, ist als großes Kompliment an die Autoren zu werten, hatte die Veranstaltung doch schon mit viel zu ausführlichen Begrüßungsworten samt Erfahrungsberichten aus dem ach so fernen Osteuropa von Seiten der verschiedenen Mitwirkenden begonnen. Zwischen den Kostproben wurden die vier Autoren auf die Bühne gebeten und mussten nach Interpretationsversuchen eines unsicheren Moderators ihre eigenen Einfälle begründen. Die Fragerei ging so weit, dass Vikentij Bryz aus Russland beantworten sollte, wie ihre Arbeit mit der ihres Partners zusammenpasse. Leider wirkten die Fragen vor allem so, als würde man die Arbeit der Autoren nicht ernst nehmen.

Dabei konnten die Texte sehr gut für sich stehen. Dass hinter Zharovs Poserei eine Selbstsuche und Lebenshunger stecken, wurde deutlich. Genauso wie Tinas innerer Kampf spürbar war – bei ihrer Sitzung mit sich selbst. Ihre verschiedenen Seiten wollen sich nicht vereinen, zu schmerzhaft wäre das Eingeständnis der eigenen Schuld am Tod des geliebten Vaters.

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