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Linke-Politiker in Potsdam: Die sieben Leben des Gregor Gysi

Der Politiker liest heute im Nikolaisaal aus seiner Autobiografie. Ein Telefonat über Ost, West und den Tag, als Potsdams Pumpwerk Moschee werden sollte.

Potsdam - Gregor Gysi hat mal wieder zu viel gleichzeitig zu tun. Als Anwalt vertritt der 70-Jährige in Brandenburg an der Havel am Dienstag einen Mandanten, anschließend sei noch ein kurzer Fernsehauftritt anberaumt. Statt Begegnung in seinem Bundestagsbüro anlässlich seines heutigen Auftritts im Nikolaisaal also ein Telefonat übers Handy. Nein, an Wiedergeburt glaube er nicht, sagt Gregor Gysi gleich zu Beginn. Auch wenn der Titel seiner Autobiografie „Ein Leben ist zu wenig“ suggeriere, dass er nun Buddhist geworden sei, scherzt er. „Aber ich bin nicht religiös. Ich glaube, wenn wir sterben, sind wir einfach tot.“

Vorher, das ist klar, wird gelebt und vor allem gekämpft. Fünf Leben führe er gleichzeitig, zählt Gregor Gysi gerne auf: als Politiker, Anwalt, Autor, Moderator, Privatmensch. Mit dem Titel der Autobiografie aber seien seine sechs bisherigen Leben gemeint. Gysi hat eine Vorliebe, seine Rede mit Zahlen zu versehen, durchzunummerieren. Wie um dem schnellen Fluss ein paar Bremsen einzubauen, damit der Zuhörer auch folgen kann.

Im Westen spielen die Stasi-Vorwürfe eine Rolle - im Osten interessieren die das Publikum dagegen kaum

Wieder zählt er also auf: Kindheit und Jugend, dann Studentenzeit, Anwaltsberuf. Dann die Zeit 89/90, „die hatte mit meinem Anwaltsberuf nichts mehr zu tun“. Und dann kam Gesamtdeutschland, Leben Nummer sechs. „Das fünfte war dadurch gekennzeichnet, dass ich von breiten Mehrheiten abgelehnt wurde und das sechste Leben, dass ich mir bei einer Mehrheit eine Akzeptanz erarbeitet habe.“ Das sechste sei viel angenehmer als das fünfte, sagt er. „Und das siebte kommt noch. Das ist das Alter.“

Seit seine Autobiografie im Herbst 2017 erschienen ist, tourt Gysi durch die Republik, der schlagfertig und sprachlich spitzfindige Politiker füllt Säle in Ost wie in West. Angesichts des regelrechten Hasses, der ihm in den Anfangsjahren als Politiker entgegenschlug, bereite dies ihm „ein Stückchen Genugtuung, das will ich gar nicht bestreiten“. Sein Buch steht auf der Spiegel-Bestsellerliste und der Verlag ist kurz davor, die Marke der 100 000 verkauften Exemplare zu erreichen. Nach wie vor seien die Fragen bei Lesungen in Ost und West unterschiedlich. „Im Westen spielen immer die Stasi-Vorwürfe gegen mich eine größere Rolle. Dazu soll ich nochmal Stellung nehmen, das hingegen interessiert im Osten kaum“, meint er. Im Buch bezieht er knapp und eindeutig Stellung: „Das war, ist und bleibt falsch.“

Im Haus herrschte eine geistig offene Atmosphäre mit Besuch aus aller Herren Länder

Vielmehr punktet Gregor Gysi in seinem Buch aber mit seiner Familiengeschichte: Beide Eltern Antifaschisten mit jüdischen Wurzeln, die Mutter aus gehobenem Adel. In den Nachkriegsjahren war der Vater einer der Gründer des Aufbau-Verlags, die Mutter Verlegerin bei Rütten & Loening, der Anfang der 1960er- Jahre Aufbau angegliedert wurde. Klaus Gysi wurde später Kulturminister, Staatssekretär für Kirchenfragen und Botschafter in Rom, Irene Gysi im Kulturministerium für den Austausch mit dem Ausland zuständig, später leitete sie die DDR-Filiale des Internationalen Theaterinstituts. Bei den Gysis zu Hause herrschte eine geistig offene Atmosphäre mit Besuch aus aller Herren Länder. Selbst ein Kindermädchen, in der DDR die absolute Ausnahme, lebte mit im Haushalt.

Mehr noch als die Kulturaffinität und Weltläufigkeit der Eltern aber habe ihn, so sagt Gysi, der Humor seines Vaters geprägt. Seine Autobiografie liest sich denn auch an mancher Stelle wie eine Reminiszenz an ihn, mit einer Aneinanderreihung von fast unglaublichen Begebenheiten und Pointen aus der Geschichte der DDR.

„Adenauer wurde erst mit 73 Jahren Bundeskanzler, da habe ich noch ein paar Jahre Zeit“

Wie etwa die über Potsdam zu Zeiten, als Gysis Vater Staatssekretär in Kirchenfragen war: Libyens Staatspräsident al Gaddafi bemängelte bei einem Staatsbesuch in der DDR, dass es keine Gebetsräume für Muslime in der DDR gebe. Er spendete dafür Geld. Sechs Jahre später, das Geld war eingegangen und längst vergessen, kam al Gaddafi erneut auf Besuch. Man entschied sich in einer Nachtaktion, das Potsdamer Pumpwerk von seinen Maschinen zu befreien und als Moschee umzufunktionieren. Ein Islamwissenschaftler wurde extra angefragt, um zu sagen, wie die Teppiche zu liegen hätten. Doch Gaddafi vergaß die Moschee, und die Potsdamer räumten die Maschinen wieder zurück ins Pumpwerk.

In seinem späteren Leben als Anwalt hatte Gregor Gysi vorrangig mit zivilrechtlichen Streitigkeiten zu tun. Doch er vertrat Anfang der 1980er-Jahre auch Künstler wie Heiner Müller oder Peter Hacks – oder Frank Castorf, als dessen Vertrag als Regisseur am Theater von Brandenburg an der Havel gekündigt wurde.

Eindruck macht jedoch vor allem in den Nachwendejahren und bis heute sein Kampf für eine europäische linke Politik. „Deutschland ist nun europäisch normalisiert, plötzlich wird es als normal angesehen, dass eine Partei links von der Sozialdemokratie existiert und im Bundestag vertreten ist“, sagt er. Das ist zweifelsohne eines der Verdienste Gregor Gysis.

„Und, Herr Gysi, wann beginnt nun endlich ihr siebtes Leben?“ – „Sie dürfen nicht vergessen“, sagt er, „Adenauer wurde erst mit 73 Jahren Bundeskanzler, da habe ich noch ein paar Jahre Zeit.“

Grit Weirauch

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