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Kultur: Liebe und Lieder in Zeiten der Gewalt

Christian von Treskow inszeniert „Der Tod und das Mädchen“ am HOT als Drama ohne Dramatik

Der erste Eindruck, heißt es, ist entscheidend. Ob das stimmt, hängt immer auch von der Oberflächlichkeit des Be- oder Unbeeindruckten ab – und davon, ob man dem Anderen die Chance auf einen zweiten Eindruck gibt. Ein Theaterstück allerdings schaut man sich meistens nur einmal an. Insofern sind vor allem die ersten Minuten nicht ganz unwichtig. Ein neues Ensemblemitglied wird man hingegen noch öfter sehen, deshalb fällt da ein erster Auftritt nicht ganz so ins Gewicht.

Bei „Der Tod und das Mädchen“, inszeniert von Christian von Treskow, geschrieben von Ariel Dorfman, das am Donnerstagabend in der Reithalle des Hans Otto Theaters Premiere hatte, ging es um gleich drei erste Eindrücke. Den des Stücks, des Regisseurs, der erstmals am Potsdamer Theater Regie führte. Und den Katrin Hauptmanns, die als Neue im Ensemble gleich die Hauptrolle in dem Drei-Personen-Stück spielt.

Und es beginnt: wahnsinnig langweilig. Minutenlang schleicht Hauptmann durch die vom Bühnenbild angedeutete Strandvilla. Im Hintergrund brandet der Ozean beständig an eine grasbewachsene Küste. Ein weißer Vorhang bauscht sich vor den geöffneten Panoramafenstern, Hauptmann guckt raus aufs Meer, versteckt sich wieder. Trinkt Wein. Sie wartet, ist nervös, ja. Trotzdem tut sie alles gehemmt. Zu ruhig. Nicht nur in ihrer Rolle als wartende Ehefrau, man hat den Eindruck, auch als Schauspielerin Hauptmann. Die Unruhe, ja Panik, die sie als Paulina Escobar, die sie spielt, empfinden muss, während sie auf Gerardo (Philipp Mauritz) wartet, überträgt sich nicht. Und nicht, weil der Zuschauer erst später erfährt, welche Geister Paulina da draußen fürchtet. Ja, Warten lässt sich schwer darstellen, aber hier wartet man nicht mit Paulina sondern nur auf die Kraft des Schauspiels.

Und als Gerardo endlich kommt, passiert unglaublich viel auf einmal: Sie ist erleichtert, er hat ein schlechtes Gewissen, das er, wie viele Schuldbewusste, in Vorwürfe gegen sie verwandelt. Er hätte ja keine Panne gehabt, wenn sie den Ersatzreifen hätte flicken lassen und dann nicht auch noch den Wagenheber so weit, so normal im Ehe-Alltag.

Noch könnte das Ganze ein Drama von Yasmina Reza werden: eine lustige, bitterböse Rekonstruktion des Miteinanders. Der Streit zwischen Paulina und Gerardo aber ist nicht ausgespielt, er ist nur die Brücke zu etwas Tieferem. Das Drama nämlich, auf das es bei Dorfman zuläuft, ist ein viel existenzielleres. Es geht um Abgründe, um unverzeihbare Schuld und die gleichzeitige Notwendigkeit von Vergebung. Um Opfer und Täter, die aus der politischen Ebene hinaustreten und sich privat, Angesicht zu Angesicht, gegenüber finden.

Es geht um die Traumata, die eine Diktatur hinterlässt, Systeme, in denen Menschen verfolgt, gejagt, gefoltert – und Frauen immer auch vergewaltigt werden. Nicht einmal, nicht zweimal, ungezählte Male. Dorfman hat dafür eine drastische und damit die einzig richtige Sprache gefunden. Sie findet sich, trotz der ausgesprochenen Worte, nicht im Geschehen auf der Bühne wieder. Dabei gäbe es hier so viel Potenzial, den Zuschauer mit in den Schlund aus Ekel, Schmerz und unbedingtem Wille nach Vergeltung zu reißen: Paulina ist eine von Tausenden Frauen, die unter der Militärdiktatur Pinochets in Chile gefoltert und vergewaltigt wurden, ihr Mann Gerardo ist Anwalt. Er hat sie, als sie ihrem Peiniger entkam, wieder aufgenommen. Allerdings war eine andere Frau bei ihm, als sie nach Hause kam. Aber das ist nur eine Neben-Narbe. Eigentlich fast vergessen. Jetzt aber bringt Gerardo – gerade als Anwalt für Menschenrechte befördert, mit guten Aussichten auf einen Justizministerposten und damit prädestiniert dafür, nicht nur das Unrecht allgemein, sondern auch das, das seiner Frau angetan wurde, zu ahnden – einen Mann mit nach Hause. Ein netter Arzt, der ihm bei seiner Panne geholfen hat und in dem Paulina ihren schlimmsten Folterer erkennt. Ein Mann, der ihre Liebe zu Schubert, speziell dessen Lied „Der Tod und das Mädchen“ teilt und ihr diese Liebe für immer zerstört zu haben scheint. Es ist zu ihrem Trigger geworden, ein paar Klänge, und ihr Geist liegt wieder gefesselt und gepeinigt unter den Männern auf einer Pritsche.

Paulina also überwältigt diesen Arzt (Christoph Hohmann), als der nachts, auf Drängen Gerardos, in ihrem Haus schläft, fesselt und knebelt ihn und will sein Geständnis erzwingen. Oder ihn töten. Oder beides. Im Grunde will sie ihre Erinnerung überwältigen. Sich vom Trauma befreien. Sie kommt ihm nah dabei und schüttelt sich dann wieder vor Abscheu. Aber die bleibt ein staksiger Tanz, dessen Motivation man ihr nicht abnimmt, so wenig wie die Härte, wenn sie mit ihrer Waffe auf seinen Kopf zielt. Er hat sie für immer verändert, hat in ihr ausgelöst, was vielleicht am Ende jede Gewalt auslöst – sie selbst zu großer Gewalt befähigt. „Das Anspruchvollste an der Rolle ist für mich, Paulina nicht nur als Täterin zu zeigen“, sagte Hauptmann zuletzt im PNN-Gespräch. Die Klischeefalle der rachsüchtigen Furie wolle sie unbedingt umgehen. Das gelingt ihr, in kaum einem Moment nimmt man sie schließlich als Täterin wahr, sie bleibt sein Opfer, auch wenn sie sich am Ende im roten Kleid ins Publikum setzt und Schubert lauscht.

Den Bogen zur Aktualität, zu den Folterkellern in Syrien etwa, verschenkt von Treskow am Ende: Er verortet das Ganze mit eingeblendeten Fakten zu Pinochets Diktatur eindeutig in Chile und knüpft den Faden der Übertragung, der sich im eigenen Kopf längst entspinnt, einfach nicht weiter. Ariane Lemme

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