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Nackter Zauber.

© SAmmi Landweer

Lia Rodrigues bei den Potsdamer Tanztagen: Die Einschnürungen bleiben

Die Choreografin Lia Rodrigues zeigte bei den Tanztagen ihre Bauhaus-Hommage „Formas Breves“ - eine berührende Anklage.

Potsdam - Selbstvergessen wickelt sie das durchsichtige Klebeband um ihren Körper: von den Beinen, über die Arme, bis zum Kopf. Auch die weichen zarten Brüste werden eingeschnürt: wie lebloses Gummi. Der Atem der Zuschauer stockt in dieser angespannten Stille. Schließlich wird von anderen Tänzern das Klebeband zu langen Bahnen ausgerollt und quer durch den Raum gespannt: die Tänzerin nun mittendrin wie eine Spinne im Netz. Als dieses Netz mit scharfen Schnitten gekappt wird, steht sie verloren da. Ihre Einschnürungen bleiben. 

Das ist das letzte Bild eines dichten Reigens, der am Mittwochabend bei den Tanztagen die Schönheit der Verletzung berückend und bedrückend auf die fabrik-Bühne bringt. Malerisch, poetisch, flüchtig und doch von Dauer. Die Sprache der brasilianischen Choreografin Lia Rodrigues buchstabiert sich durch die Empfindsamkeit schöner und geschundener, auch sich wehrender Körper. Klar und präzise und doch unfassbar.

Bei Lia Rodrigues' Stück "Formas Breves" kommt auch Klebeband zum Einsatz.
Bei Lia Rodrigues' Stück "Formas Breves" kommt auch Klebeband zum Einsatz.

© Sammi Landweer

Bezüge zu Italo Calvino

Ihre „Formas Breves“, die sie nach 15 Jahren wieder aufgenommen und für die Tanztage neu bearbeitet hat, beziehen sich auf den Bauhaus-Künstler Oskar Schlemmer und auf den italienischen Schriftsteller Italo Calvino. Doch die Verschränkung ihrer Hommage an die beiden großen Meister bringt eine ganz eigene Sprache hervor. Wer tags zuvor die Rekonstruktion von Schlemmers Triadischem Ballett im Hans Otto Theater gesehen hat, kann gut vergleichen, wohin es Lia Rodrigues auf der Bauhaus-Welle treibt. Sie verzichtet auf ausgestellte, schwere Kostüme, auf dröhnende Musik. Ihr „Material“ ist der Körper: nackt, biegsam, verletzlich. Aus ihm baut sie Skulpturen – und lehnt sich dabei an die Schlemmerschen Figuren an. Präzise wie eine Bildhauerin schafft sie Formen, die in immer neues Licht getaucht werden.

In der ersten Szene legt ein Tänzer Karten mit Fotos dieser Schlemmerschen Figuren auf den Boden, daneben ein Buch. Eines von Calvino? Vielleicht seine Kriegsauseinandersetzung „Wo Spinnen ihre Nester bauen“? Oder seine „Sechs Vorschläge für das nächste Jahrtausend“, die er für einen Vortragszyklus 1986/87 an der Harvard Universität halten wollte? Darin untersuchte er die Themen Schnelligkeit, Leichtigkeit, Genauigkeit, Durchsichtigkeit und Vielschichtigkeit denkbar einfach und doch sehr abstrakt. Den sechsten Vorschlag, über die Haltbarkeit, konnte er nicht mehr vollenden. Calvino starb darüber. Doch seine Themen sind bis heute haltbar: wie „Formas Breves“ sinnlich vor Augen führt.

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Das Schlussbild ist eine Anklage

Wie Calvino in der Literatur sieht Rodrigues im Tanz eine mögliche Flucht aus der Schwere und Unerträglichkeit der Welt. Besonders wenn sich die Flüchtenden zusammentun: Nach harten Beats tanzen sie, als gäbe es kein Morgen, mit ihren Fäusten nach vorne peitschend, in wilder Extase – bis sie wieder auseinanderstieben und auf sich selbst zurückfallen. Es ist diese Balance zwischen Kraft und Leichtigkeit, Ernst und Humor, Nähe und Verfremdung, die diese einstündige Vorstellung so packend werden lässt.

Lia Rodrigues baut mit ihren neun jungen Tänzern ihr eigenes Haus, auf ein Fundament, das Schlemmer einst legte, an dem Calvino wortstark mitbaute, und von dem sie nun selbst Besitz ergreift: mit all seinen Ecken und Kanten. Wenn sich die nackten Körper zur Brücke formen, im warmen Licht verharren, hört man in die Stille hinein eine sanfte Melodie. Der Zuschauer fühlt sich wie vor einem Altar, in Andacht des Zaubers, der dem Menschen innewohnt.

Er erlebt, wie die Tänzer die Schlemmerschen Figuren studieren, ihre einzelnen Körperteile exakt danach bewegen, runde Formen daraus werden und sie wie Schmetterlinge davonfliegen. Um am Ende wieder eingesponnen zu sein wie ein Kokon. Das Schlussbild ist eine Anklage. Die Tänzer halten Schilder hoch. „The Brasilian State is a killer“. Auch das Bauhaus wurde einst gekillt. 

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