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Letztes Konzert vor dem Lockdown: Töne aus dem Off

Vor dem Lockdown: Der Geiger Linus Roth und das Brandenburgische Staatsorchester Frankfurt spielen unter der Leitung von Monika Wolinska im Nikolaisaal Potsdam noch einmal Tschaikowsky.

Potsdam - Im Frühjahr 1878 erholt sich Tschaikowsky in der Schweiz, am Genfer See. Er hatte eine kurze, unglückliche Ehe hinter sich, eine enttäuschte Liebe zu einem jungen Geiger, einen Nervenzusammenbruch. In der Schweiz ging es ihm besser. Das Violinkonzert, das er hier schrieb, sein einziges aber heute eines der bekanntesten und meistgespielten Violinkonzerte überhaupt, strotzt von Gefühl und Dramatik, von Zerrissenheit, Sehnsucht, Aufbegehren, der Suche nach Harmonie und Frieden.

Es passte deshalb ganz wunderbar zu dem Sonntag, an dem im Nikolaisaal noch einmal strahlend musiziert werden dufte, bevor auch hier für mindestens einen Monat die aktuellen Coronaschutzgesetze gelten: keine Konzerte mehr.
Bitter mutete es an, noch einmal zu erleben, mit welchem Aufwand hier seit Monaten alles versucht wurde, das Ansteckungsrisiko zu minimieren. Noch einmal lief man gekennzeichnete Wege von der Straße ins Haus, wo die vielen zusätzlichen Hostessen die vergleichsweise wenigen Gäste empfingen und leiteten. Abstand überall. Im Saal ein durchweg feines Summen eines Lüfters – ist der neu? 

Kultur ist der Kitt der Gesellschaft

Es hat nicht gereicht, um von den Maßnahmen ausgenommen zu werden. Was den großartigen Geiger Linus Roth, der das Konzert mit dem Brandenburgischen Staatsorchester Frankfurt unter Leitung der Dirigentin Monika Wolinska spielte, dazu veranlasste, zum Ende des Konzerts nachdrückliche Worte zu sagen. „Kultur ist der Kitt der Gesellschaft. Stattdessen rufen einige Politiker zum Denunziantentum auf – da mache ich nicht mit!“ Und an die Politik gerichtet: „Gehen Sie mal ins Konzert und sehen Sie sich an, was wir für Hygienekonzepte haben. Dass wir hier nicht besoffen auf den Tischen tanzen.“

Stattdessen also Tschaikowsky. „Nach Moskau!“ hieß das Konzert, das ursprünglich auch die 1. Sinfonie von Rachmaninow umfasste. Nun spielten die Musiker gestern zwei Durchläufe der gekürzten Variante. Und es war dennoch eine Wucht. Tschaikowskis Serenade für Streichorchester C-Dur hat etwas Geerdetes, dann wieder schwingt und treibt alles vorwärts. Das Ende scheint klingt nach Erlösung, aber da schwingt auch ein Zögern und eine Verunsicherung mit. Was wird kommen?

Ein angeblich unspielbares Violinkonzert

Es kam: Das angeblich unspielbare Violinkonzert. Leopold Auer, ein renommierter Virtuose, dem Tschaikowsky das Konzert zunächst gewidmet hatte, lehnte es 1878 als unmöglich zu spielen ab, damit war der Ruf gesetzt. Erst zwei Jahre später kam es zur Uraufführung der Orchesterfassung. Bis heute wohnt dem Konzert eine mitreißende Kraft inne, man fiebert mit, man ficht die inneren Kämpfe. Weinen, flehen, protestieren, verhandeln, sorgen – läuft hier etwas aus dem Ruder? Wo geht es hin? 

Im zweiten Teil dominiert die Emotionalität der immer wieder faszinierenden Geigensoli, bei denen man mit dem Solisten mitatmet, mitbangt, bis weitere Stimmen einsetzen, übernehmen. Ein Geben und Nehmen zwischen Geige, Klarinetten, Flöten, Oboen. Bis am Ende sich alles findet, zusammenrauft. Alles wird gut. 

Linus Roth setzte dennoch jenen ernsten Schlusston. Mit schwarzer Maske spielte er die Zugabe, eine Passacaglia von Bach. Schritt dabei quer über die Bühne zum Ausgang. Die letzten Töne – aus dem Off. Das Violinkonzert ist erstmals tatsächlich unspielbar.

Steffi Pyanoe

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