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Lesung in Potsdam: Mit Kirschlikör, aber ohne Perspektive

Alina Herbing las im Potsdamer Viktoriagarten.

Von Sarah Kugler

Potsdam - Die Gummistiefel sorgten für Erstaunen. Zumindest bei Autorin Alina Herbing, die am Dienstagabend in der Buchhandlung Viktoriagarten ihrem Debütroman „Niemand ist bei den Kälbern“ vorstellte. Was sie nicht wusste: Für Besucher mit Gummistiefeln an den Füßen war der Eintritt zur Veranstaltung kostenlos. „Ich habe tatsächlich gedacht, es seien auch Bauern gekommen“, sagte die 1984 in Lübeck geborene Herbing am Dienstag. Das sei bei ihren Lesungen nichts Ungewöhnliches, schließlich spielt ihr Roman größtenteils auf einem Milchbauernhof im ländlichen Mecklenburg. Die 20-jährige Protagonistin Christin lebt hierin bei ihrem langjährigen Freund Jan, dessen Familie wegen der schlechten Milchpreise immer in Sorge um den Hof ist.

Aber das interessiert Christin eigentlich nicht. Überhaupt ist ihr das Landleben eher zuwider: die Tiere, auf denen Bakterien herumkrabbeln, die immer gleichen Dorffeste, ihr Säufervater und selbst der eigene Freund, der regelmäßig ihr Handy kontrolliert. Kurzzeitig scheint Windkrafttechniker Klaus ein Ausweg, am Ende bleibt ihr aber doch nur der Kirschlikör. Alina Herbing schildert die Handlung ihres Romans aus der Perspektive ihrer Protagonistin. Ihre stoische, resignierende Art spiegelt sich in der sehr klaren, authentisch nüchternen Sprache wider. Um diese hat Herbing sehr gekämpft, wie sie am Dienstagabend erzählte: „Mir war wichtig, dass eben nicht alles grammatikalisch korrekt ist, nicht jedes Bild ganz gerade.“ Dadurch wird „Niemand ist bei den Kälbern“ zu einem besonderen Leseerlebnis. Nichts ist hier verkitscht, nichts dramatisiert. Selbst als Christin beim Sex eine Ohrfeige bekommt, kommentiert sie das nur mit der Feststellung, dass sie nun ein weiterer Mann geschlagen hat. Mitleid kommt beim Lesen trotzdem nicht so richtig auf. Überhaupt scheint Christin eher unsympathisch mit ihrer Zerkratz-mir-nicht-den-Nagellack-Art und der Mir-ist-eh-alles-egal-Haltung. Eher kommt beim Lesen der Impuls auf, sie anzuschreien: Nun mach doch mal was aus deinem Leben!

Dass genau das nicht immer so einfach ist für junge Menschen, die ohne gute Ausbildung auf dem Land leben, weiß Herbing aus eigener Beobachtung. Ihre Familie zog nach Mecklenburg, als sie etwa sieben Jahre alt war. Schon in der Grundschule fühlte sie sich schlecht, wenn ihre Mitschüler Asylantenkinder fertig machten – und auch gegen das Gymnasium wurde oft gepöbelt. „Bei den traditionellen Bauernfamilien ist es verpönt aufs Gymnasium zu gehen“, so Herbing. „Für eine Tätigkeit in der Landwirtschaft ist das eben nicht notwendig.“ Deswegen blieben viele in der Heimat. Weil sie es eben nicht anders kennen und niemanden in ihrem Umfeld haben, der ihnen alternative Perspektiven vorlebt. Genau diese Thematik habe sie schon bei ihrem Studium am Literaturinstitut Hildesheim interessiert, an dem sie Kreatives Schreiben studierte. Aus Kurzgeschichten entstand schließlich der Roman. Und der ist – obwohl oder gerade weil er kein Wohlfühlroman ist – unbedingt lesenswert. Mit Gummistiefeln oder ohne. 

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