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Lesung im Viktoriagarten: Kollision der Welten

Merle Kröger trifft mit ihrem Roman „Havarie“ den Kern der Zeit. Heute liest sie im Viktoriagarten.

Von Sarah Kugler

Riesige Badepools, mehrere Stockwerke und glitzernde Fensterfronten hinter denen sich Shoppingmalls sowie Spielcasinos verstecken. Es ist eine eigene Welt, die sich auf einem Kreuzfahrtschiff versteckt. Eine Welt, die vor allem Wohlstand und Luxus symbolisiert – erst recht, wenn sie sich auf einmal mit einem wackeligen Schlauchboot voller Flüchtlinge konfrontiert sieht. Eine Situation, die Autorin Merle Kröger auf Youtube gesehen hat und sich davon zu ihrem aktuellen Roman „Havarie“ inspirieren ließ, aus dem sie heute Abend in der Buchhandlung Viktoriagarten in der Geschwister-Scholl-Straße liest.

In dem Buch prallen Gegensätze aufeinander: Zum einen gut situierte Europäer, die zum Vergnügen auf der „Spirit of Europe“ im Mittelmeer umherschippern. Zum anderen verzweifelte Männer aus Algerien, die sich aus der Not heraus auf das Meer hinauswagen und hoffen, gesund in Spanien anzukommen, um ein besseres Leben starten zu können. Kröger erzählt von dieser Begegnung aus der Sicht von elf verschiedenen Charakteren, die sie nach und nach in kurzen Kapiteln einführt. In knappen, nachrichtlich gehaltenen, fast telegrammartig geschriebenen Sätzen bringt sie dem Leser die Figuren näher. Wirkt dieser Stil anfangs noch spröde und unnahbar, entwickelt sich beim Lesen schnell ein Sog, der neugierig macht auf die unterschiedlichen Schicksale, die irgendwie alle miteinander verwoben sind.

Da ist etwa Karim, der Bootsführer des Flüchtlingsschiffes, der seiner Frau eigentlich versprochen hat, sich nie wieder auf so eine gefährliche Reise zu begeben. Oder Seamus, Passagier auf dem Luxusschiff, der seinen Freund Kevin im Nordirischen Bürgerkrieg verloren hat. Dann sind da noch Marwan aus Syrien, der in den weniger glamourösen Tiefen des Schiffes arbeitet und Sybille, eine ältere Dame im Rollstuhl, die mit ihrer spielsüchtigen Schwester reist. Und Lalita, Security Mitglied der „Spirit of Europe“, die sich in den Musiker Jo verguckt, der wiederum auf unerklärliche Weise im Meer verschwindet und damit Rätsel aufgibt. Denn „Havarie“ ist auch ein Krimi, der im vergangenen Jahr sogar mit dem Radio-Bremen-Krimipreis ausgezeichnet wurde. Doch die Spannung geht trotzdem in erster Linie von dem Konflikt der verschiedenen Welten aus, der hier von Kröger sehr drastisch gezeichnet wird. Dass sie das schafft, ohne aus ihrer knappen Sprache herauszufallen und der Versuchung nachzugeben, einen dramatischen oder gar moralischen Ton aufzusetzen, lässt ein Unbehagen entstehen, das sich wie ein Lasso immer fester um den Leser zieht. Vor allem deswegen, weil sie reale Bilder zeichnet, die aus den Nachrichten bekannt sind, die man aber doch ganz gerne verdrängt.

So klingt es fast unglaublich, wenn die Sicherheit der „Spirit of Europe“ bei der Spanischen Seerettung nachfragt, ob sie die Flüchtlinge auflesen soll und sie als Antwort ein „Nein“ erhält. Sie solle warten bis Hilfe eintrifft, das könne über eine Stunde dauern. Noch unglaublicher scheinen die Reaktionen an Bord: Passagiere filmen das Schlauchboot und äußern ohne Hemmungen ihre Bedenken. Eine Dame etwa fragt, ob „diese Ne- diese Afrikaner an Bord“ genommen würden, was wäre schließlich „wenn die Schwerter dabeihätten“. Die Sicherheitsleute versuchen derweil zu beruhigen, bis der Kapitän die erlösenden Worte spricht: die Bingo Endrunde beginnt, die Passagiere haben eine neue Attraktion.

Was Kröger hier erzählt, ist ein Spiegel der derzeitigen Gesellschaft. Vorurteile gegenüber dem Fremden, Ängste, die im Raum stehen und zu so etwas führen, wie Demonstrationen gegen die Islamisierung des Abendlandes – erst vor kurzem sogar im sicheren Potsdam. Und genau das macht „Havarie“ so erschreckend, so unbequem und gleichzeitig so unglaublich wichtig. Der Roman zeigt, dass die Flüchtlingsprobleme eben doch uns alle betreffen und dass deren Welt eben auch unsere ist. 

Merle Kröger liest heute Abend um 20 Uhr im Viktoriagarten, Geschwister-Scholl-Straße 10, Eintritt kostet 5 Euro.

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