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Kultur: Leben mit Lenné

Für unsere Sommerserie besuchen wir POTSDAMS GÄRTEN und Parks. Die Obstgärten in der Kolonie Alexandrowka sollten russischen Sänger-Soldaten zur Selbstversorgung dienen – was in der Nummer zwölf heute (fast) gelingt

Von Berlin braucht man bis nach Russland 20 Stunden mit dem Zug – von Potsdams Mitte keine zehn Minuten mit dem Fahrrad. Hier steht die Kolonie Alexandrowka, holzgewordener Beweis der Freundschaft zwischen dem Preußen-König Friedrich Wilhelm III. und dem russischen Zaren Alexander I. Das Bilderbuchdorf war eine Liebeserklärung an den verehrten Zaren, als der Ende 1825 starb.

Hofgärtner Peter Joseph Lenné übernahm die Planung für die Anlage, die seit 1999 zum Weltkulturerbe gehört. Ein „lebendiges Denkmal“ sollte es werden, Menschen sollten hier leben – russische natürlich: Die zwölf verbliebenen Sänger aus dem Sängercorps, das für die Erbauung preußischer Soldaten der Armee angegliedert war. In der Alexandrowka sollten sie heimisch werden – und weitestgehend als Selbstversorger leben. Daher die Gärten, daher die Äpfel und Birnen. Daher auch pro Hof eine Kuh. Die Kühe blieben allerdings nicht lange, das Grasland reichte nicht, um sie zu ernähren. Und auch die Sache mit der Selbstversorgung funktionierte nicht, die Sänger-Soldaten waren keine Bauern. Statt Gemüse und Obst anzubauen, vermieteten sie lieber ihre beschaulichen Wohnräume.

Die Musikerin Anne Andres erinnert sich gut an den Moment, als sie selbst ankam in der Alexandrowka. Im Januar 1998 war das, ein Tag, der neblig begann. Mit ihrem Mann Lutz war sie zuvor tagelang durch die Kolonie geschlichen, hatte sich die Häuser und Gärten von außen angesehen und sich dann getraut, bei Haus Nummer zwölf durch die Hecke zu kriechen. Sie streunten durch den Garten, irgendwann lehnte Anne Andres sich an die gartenseitige Wand des Holzhauses und schaute auf das Gestrüpp, das der Garten damals war. Da kam plötzlich die Sonne raus und Anne Andres wusste: Hier will ich bleiben.

Anne und Lutz Andres blieben. Sie bewarben sich bei der städtischen Wohnungsbaugesellschaft Gewoba als Mieter für das leerstehende Haus, im März 1999 zogen sie ein. Das Gelände stand zwar seit 1977 unter Denkmalschutz, aber davon war Ende der 1990er wenig zu sehen. Die Lennésche Gartenstruktur war 1951 aufgelöst worden, die Gärten parzelliert und größtenteils verwildert. Im Garten von Haus Nummer zwölf lag Müll herum, auf dem Dachboden fand Lutz Andres eine alte Kalaschnikoff, die er zur Polizei brachte. Den historischen Kuhstall hatte ein Vornutzer mit alten Busteilen zu einer Garage umgebaut. Die verwilderten Beete waren nach Schrebergartenart mit Blech und Ziegelsteinen eingefasst.

„Kein Plaste, keine Deko“, nach diesem Motto brachte Lutz Andres das Haus und den Garten auf Vordermann. Seine Frau sagt: Er tat es mit goldenen Händen. „Ich mag Gärten, die entweder frisch geharkt sind oder ein bisschen verkrautet“, sagt er. „Und weil wir hier kaum hinterherkommen, haben wir uns für Letzteres entschieden.“ Lutz Andres ist kein Pedant, wohl aber ein Purist. Nicht einmal Rindenmulch lässt er zu in seinen Beeten, bloß kein Schnickschnack. Wenn Besucher kommen, versteckt er sogar den Gartenschlauch.

So kommt es, dass ein Besuch auf dem Anwesen der Familie Andres tatsächlich ist wie eine Reise – nicht nur in ein fernes Land, sondern auch wie in eine ferne Zeit, eine ohne Gartenschläuche, Rasenmäher und Gartengestühl aus Plaste. Dafür Holztische unter Obstbäumen, selbstgemachter Saft aus Apfel und Rhabarber, prächtige Spätsommerblüten, orange leuchtende Kürbisse, und die von Lutz Andres besonders geliebten roten Rüben. Eine Zeit lang liefen hier sogar Hühner durchs Gelände, dann kam der Fuchs.

Ein vollkommenes Selbstversorgerparadies – wären nicht in diesem Jahr sämtliche Blüten erfroren. Von den rund 50 Bäumen in Andres’ Garten trugen in diesem Jahr nur zwei. Sogar die treue Pastorenbirne, ein etwa 130 Jahre alter Baum, der jedes Jahr trägt, gab in diesem Jahr nur fünf Früchte. Sonst sind es pro Saison rund 200. Auf dem Tischchen vor dem Haus, wo Familie Andres sonst gegen eine Spende Obst aus eigener Ernste anbietet, lag in diesem Jahr russische Lyrik.

Vor Lennés Anlage, der die Wege in der Kolonie in Form eines russischen Andreas-Kreuzes entwarf, haben die beiden großen Respekt – gehen aber nicht vor ihr in die Knie. Den Teich, den Lutz Andres für seine Fische gegraben hatte, wollte die Denkmalkommission im Jahr 2000 am liebsten wieder entfernen lassen – aber als Regenwasserfanganlage durfte er bleiben. „Wir spinnen um die Lennéschen Wege herum“, sagt Lutz Andres über die verschlungenen Pfade im eigenen Garten. Von dem angrenzenden, penibel von der Stadt gepflegten Gelände ist er durch keinen Zaun getrennt – auch das eine Vorgabe Lennés.

Es kann passieren, dass Touristen durch das große Hoftor der Familie Andres hereinspazieren. Manchmal ärgert Familie Andres sich über deren Unverfrorenheit, aber meistens schickt sie die ungebetenen Besucher einfach ein paar Schritte weiter in das Museum Alexandrowka. Dort gibt es das „Uschakoff“, ein Gartencafé, in dem man dem Herbst bei seiner Ankunft zusehen kann. Seit August wird es von einem dreiköpfigen Team um die Stadtführerin Nicola Spehar betrieben, die den dortigen Garten wieder zu einem Zentrum für Kultur machen will – mit Open-Air- Kino, Lesungen und Weihnachtsmarkt. Bisher kennt man sie vor allem in ihrer Kostümierung als Königin Elisabeth. Zukünftig wird sie zur Zarin aufsteigen.

Manchmal, wenn Nicola Spehar in der morgendlichen Stille über die offene Wiese auf die Lennésche Baumreihe schaut, kommt ihr das alles vor wie ein Traum. So ähnlich hatte das auch die Gärtnerin Anne Andres gesagt: Ja, in der Alexandrowka kann man die Seele baumeln lassen – „nur muss man dabei arbeiten“.

Heute und morgen von 10 bis 18 Uhr öffnet Familie Andres im Rahmen der Initiative „Offene Gärten“ Garten und Haus (Russische Kolonie 12). Das Café Uschakoff (Russische Kolonie 2) ist Mo./Di. und Do. bis So. von 10 bis 18 Uhr geöffnet

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