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Kultur: Laufen, Seufzen und Befehlen

Made in Potsdam II: „Legacy“ in der fabrik

Die Frauen laufen. Aber es ist kein Wettlauf. Und es geht hier auch nicht um Schönheit. Eher sind sie eine Kohorte, ein Wille mit vielen Beinen, der sich bewegt, ohne so richtig vom Fleck zu kommen. Sie ändern ihre Richtung, mal nach links, sie schwitzen, sie keuchen. Immer wieder jauchzt eine, wie um die anderen, um sich selbst anzutreiben.

Lange hört man nur diese gelegentlichen Laute, erschöpftes Seufzen, schmerzerfüllter Schrei und euphorischer Befehl. Und das Klatschen ihrer nackten Füße auf dem Boden. Dann fängt Manou Gallo, die am Rand der Bühne, die eigentlich nur die Mitte des Raumes ist, an, ein wehmütiges Lied zu singen, es wird abgelöst von Trommeln, erst friedlich, dann bedrohlich. Die Frauen laufen weiter, sie durchlaufen, denkt man, die Geschichte. Alle Zeitalter der Unterdrückung, alle Phasen des Schmerzes.

Dabei war es vor allem ein Ereignis, das die Choreografin Nadia Beugré zu ihrem Stück „Legacy“, „Erbe“ inspirierte. Am Donnerstag eröffnete es das „Made in Potsdam“-Festival. Das Erbe, auf das sie sich bezieht: der Marsch der Frauen von Grand-Bassam 1949. Die ivorischen Frauen protestierten damit friedlich für die Freilassung ihrer – aus politischen Gründen – inhaftierten Männer und wurden von den französischen Kolonialherren massakriert. Man könnte viele weitere Parallelen finden, etwa den Marsch der Frauen, der am 20. Januar als Protest gegen die Inauguration Trumps auf Washington geplant ist. Aber Beugré, in Elfenbeinküste geboren, wollte sich mit ihrem eigenen Erbe beschäftigen. Was nicht heißt, dass sie die Kämpfe der anderen Frauen nicht unterstützt und dass nicht jede – und jeder – sich in ihrem getanzten Kampf erkennen kann. Eine Frau zu sein heißt bei Beugré: sich wegzuwerfen. Für andere. Aber nicht, wie es dem traditionellen weiblichen Rollenbild entspricht, als liebendes Wesen, sondern kämpfend für etwas Umfassenderes. Sie werfen sich weg für die Freiheit – ihrer, die ihrer Männer und die ihrer Brüste. Beim Laufen schälen sie sich aus ihren Kleidern, den BHs zuletzt. Ihre Brüste schwingen bedrohlich beim Laufen, keine Objekte der Schönheit und der Begierde hier. Sie sind Kampfmittel. Das ist wohl die größte Befreiung: Dass zwölf Paar Brüste – zehn Laiendarstellerinnen, Nadia Beugré und ihre Kollegin Hanna Hedman – durch den Raum fliegen und niemand an Sex denkt. Sondern an die Kraft des Kollektivs, des Widerstands.

Irgendwann stehen sie still, schwer atmend löst sich die Gruppe, jede Frau tastet sich suchend ihren eigenen Weg. Verschwinden im Dunkel des Publikums. Nur Beugré und Hedman bleiben. Fallen übereinander, kommen sich in die Quere. Ohne die anderen wirken sie verloren, hilflos. Aus der Befreiung ist ein Netz geworden: Hunderte BHs sind zusammengeknüpft zu einer bunten und raumgreifenden Skulptur, sie breiten sie auf dem Boden aus und ziehen sie mit Flaschenzügen an die Decke. Wie eine Nachgeburt hängt es da, dieses Netz, die Frauen reichen Whisky-Flaschen durchs Publikum, wer mag, kann mit ihnen auf den Kampf trinken – ob er gewonnen ist, bleibt offen.

Nadia Beugré zumindest geht den anderen in eines der von der Decke wieder herabgelassenen Netze. Sie trägt es wie eine Zeremonienmeisterin des Rock’n’Roll, ja sie tanzt sogar darin wie ein Derwisch, zu den Klängen von Manou Gallos Bassgitarre. Bis sie dann doch in Panik zu erstarren droht. „Keep breathing“, sagt Hedman, „keep desiring, keep observing, keep dreaming.“ Und es wirkt. Beugré kann sich befreien, und plötzlich löst sich alles auf. In kleinen Gruppen erzählen die Tänzerinnen die Geschichte hinter dem Tanz, wer will, kann von einer zur anderen wandern. Kein Schlussapplaus, keine Verbeugung. Man spürt die Irritation, während schon Sekt und noch mehr Whisky herumgereicht werden. War es das? Bis sich die Befreiung im Kopf einstellt: Ich selbst bin verantwortlich. Zu fragen, teilzuhaben, zu gehen. Wer sitzen bleibt, wird nichts verändern. Ein großer Moment, in dem Kunst und Ego zusammenfließen. Ariane Lemme

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