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Kurt Winkler, Direktor des Hauses der Brandenburgisch-Preußischen Geschichte.

© Sebastian Gabsch

Kurt Winkler schreibt an Theodor Fontane: "Mit herzberührender Menschlichkeit, mit großem Sprachgestus"

Kurt Winkler, Direktor des Hauses der Brandenburgisch-Preußischen Geschichte widmet sich in seinem Brief Fontanes berührendem Textmoloch der Wanderungen durch die Mark Brandenburg, 

Guten Morgen, Herr Fontane,

Zu Ihrem „Zweihundertsten“ bereiten wir eine Ausstellung vor, im von Ihnen wenig geschätzten Potsdam, im „Kutschstall“ des ehemaligen Stadtschlosses. Von hier aus gingen einst die Kutschen des königlichen Haushalts und der preußischen Administration ins Land, hierher kehrten sie mit Waren und Wissen bepackt zurück. Diesen Gedanken der Bewegung aufgreifend, haben wir Ihre „Wanderungen durch die Mark Brandenburg“ zum Thema gemacht.

Mit dem „Kapital“ Ihres Zeitgenossen Karl Marx teilen Ihre „Wanderungen“ das Schicksal, dass jeder die Buchtitel kennt, aber kaum einer den Text gelesen hat. Es soll Leute geben, die bei Ausflügen ins Brandenburgische eine Taschenbuchausgabe in den Picknickkorb legen, um vor Ort darin zu lesen oder daraus zu zitieren. Solcher Eifer kann nur auf einem Missverständnis beruhen. Denn trotz des eingängigen Titels sind die „Wanderungen“ kein Reisebericht und schon gar kein Reiseführer, vielmehr ein imaginärer Spaziergang durch Veduten und Panoramen, Familiengeschichten und Anekdoten, Ortschroniken und Sagen, die vor dem Leser Brandenburg als Geschichtsraum erstehen lassen. Diese Poetisierung Brandenburgs als Kulturlandschaft war so durchschlagend erfolgreich, dass sie bis heute die Wahrnehmung des Landes prägt, und dies auch bei Menschen, die nie einen Satz von Ihnen gelesen haben. Touristen aus Bayern oder Baden-Württemberg, aber auch manche Berliner, identifizieren Brandenburg bis heute mit der „Mark Brandenburg“ und berufen sich dabei auf „ihren“ Fontane als Kronzeugen.

Wie ist Ihnen dieser phänomenale Erfolg nur gelungen? Sie selbst, verehrter Theodor Fontane, haben für diese Texte einen trefflichen Begriff gefunden: Reisefeuilleton. Ein Feuilleton wird nicht von vorn bis hinten gelesen. Es ist ein Angebot, je nach Lust und Laune einzelne Artikel herauszugreifen. Und es bezieht Stellung, äußert eine Meinung. Sie haben Meisterschaft darin entwickelt, die Schilderung tatsächlicher oder kolportierter Fahrten in märkische Landschaften mit einmontiertem historischen Material so zu verbinden, dass die Leser Ihren Ausflügen in Raum, Zeit und Text gerne folgen. Selbst überlange Regimentsnachrichten und langweilige Adelsstammbäume überblättern wir generös in der Gewissheit, für diese Nachsicht immer wieder mit unversehens entfalteter Ironie, mit herzberührender Menschlichkeit, mit großem Sprachgestus belohnt zu werden.

Sie färben die Stoffe, die Sie behandeln, mit einem Grundklang von Geschichtlichkeit. Wie in einem historischen Panorama beleben und bevölkern die Landschaften, historischen Stätten und Kunstdenkmäler, die Schlösser, Herrensitze und Pfarrhäuser samt ihres zugehörigen Personals „Ihre“ Mark. Diese Fontane-Mischung von Kennerschaft ohne Pedanterie, Einfühlung ohne Sentimentalität macht es so lohnend, in Ihrem ausufernden Textkompendium zu lesen, wo es hingegen eine Zumutung wäre, es als Ganzes lesen zu sollen.

Am spannendsten finde ich das, was nicht gesagt wird, die verborgene Grundierung hinter der Oberfläche des Textes. Ich meine die Veränderungen durch Modernisierung und Industrialisierung, die in Ihrer Mastererzählung von der Mark Brandenburg ausgeblendet sind, aber – zumindest in meiner Lektüre – immer präsent bleiben. Denn Brandenburg und Berlin, Landschaft und Stadtlandschaft, wurden während Ihrer Lebensspanne einer sehr weitgehenden Umformung der Ökologie, der technischen Infrastruktur und des sozialen Gefüges unterzogen: Die Bevölkerung Berlins wuchs von 450 000 (1856) auf annähernd zwei Millionen (1900). Und auch ein märkisches Städtchen wie Eberswalde erfuhr, begünstigt durch den Ausbau des Finowkanals, einen Bevölkerungsgewinn von 6 000 (1850) auf 22 000 (1900) Einwohner. Industrieanlagen und Mietskasernen, Rathäuser und Schulen, Bahnhöfe und Wasserwerke, Kasernen, Banken und Museen – mit all dem war Ihre Generation konfrontiert. Sichtbar wurde der gewaltige Umbau nicht nur in Berlin, er betraf auch die Städte und Dörfer, nicht zu vergessen die Nahtstelle zwischen Mark und Metropole im städtisch-ländlichen Übergangsraum. Ich denke an den Chausseebau, den Ausbau der Eisenbahn, an die Randwanderung der Industrie und die märkische „Militärlandschaft“ aus Militäreisenbahn, Truppenübungsgelände und Schießbahnen, ich denke aber auch an die Sommerfrischen und Ausflugslokale, an Gartenstädte und Villenkolonien.

Merkwürdig ist, dass sich von alldem in den „Wanderungen durch die Mark Brandenburg“ kaum etwas findet. Obgleich Sie bei Ihren Exkursionen selbstverständlich die moderne Infrastruktur nutzten, die Dampfschiffe, Eisenbahnen und Mietkutschen, zeichnen Sie das Bild einer historisch empfundenen Kulturlandschaft, die geprägt ist von dörflichen Strukturen, von adeliger Gutswirtschaft, von mittelalterlichen Städtchen, von Domen, Klöstern und Kirchen.

Warum? Als aufmerksamer Zeitgenosse, als Alles-Notierer, als Vielschreiber und ironischer Schilderer haben Sie, so glaube ich, die Entwicklungen der Moderne genau registriert, aber durchaus nicht abgelehnt. In Ihren Londoner Jahre lebten sie begeistert in der dynamischsten Metropole auf dem europäischen Kontinent, und vor diesem Hintergund mussten Sie die Zeichen der Zeit auch an Spree und Havel wahrnehmen. Ihre Berlinromane sind voll von scharf beobachteten und zugleich poetisch überformten Bildern der Metropole in ihrem Wandel von der biedermeierlichen Residenz zur Kaiserstadt der Gründerjahre. Und als freiberuflicher Journalist und Autor gehörten Sie einem ausgesprochen „modernen“, großstädtischen Berufstand an, mit allen Licht- und Schattenseiten.

Ihren historisierenden Blick auf Brandenburg und vor allem die von Ihnen erfolgreich bediente Erwartung Ihrer Leserschaft, die „Mark“ als geschichtliche Gegenwelt zu goutieren, erkläre ich mir gerade aus dem Unbehagen an dem scheinbar geschichtslosen Fortschritt Berlins. Sicherlich brachte die Unaufhaltsamkeit des Neuen auch eine veränderte Haltung zum Überkommenen mit sich, das in dem Maße als bewahrenswert erschien, in dem es dem allgemeinen Fortschritt zum Opfer zu fallen drohte. Zielsicher haben Sie in Ihren „Wanderungen“ aus der hauptstädtischen Perspektive und für ein hauptstädtischen Publikum eine Region, die bis dato eher nicht zu den literarischen Sehnsuchtsorten zählte, schreibend zum Geschichtsraum aufgewertet.

Und heute? Theodor Fontane erfreut sich ungebrochener Beliebtheit. Das Fontane-Jahr 2019 anlässlich des 200. Geburtstages versammelt über 400 Beiträge von Kultur- und Wissenschaftseinrichtungen, die Medienresonanz ist hoch, das Publikum begeistert. Und weiterhin wird Theodor Fontane mit Brandenburg identifiziert, obgleich er biografisch, literarisch und (medien)historisch der Hauptstadt mindestens ebenso zugehört. Dieses „Brandenburg-Branding“ funktionierte zu Ihren Lebzeiten, und es funktioniert ungebrochen, ja verstärkt bis heute. Nach wie vor sind es die „Wanderungen“, die diesen Mechanismus tragen, jener bekannte und ungelesene, großartige und irritierende, berührende und befremdende Textmoloch von mehreren tausend Seiten.

Verehrter Theodor Fontane! Vielleicht blicken Sie ja vom Parnass auf das Ländchen Brandenburg und seine Schicksale in den 121 Jahren seit Ihrem Abscheiden. In den drei Jahrzehnten seit dem Fall der Berliner Mauer, der auch die Grenze zwischen West-Berlin und dem DDR-Territorium aufhob, haben sich die Ereignisse, die zu Ihrer Zeit den durchschlagenden Erfolg der „Wanderungen durch die Mark Brandenburg“ bedingten, unter anderen Vorzeichen wiederholt. Wieder hat sich Berlin neu erfunden, als Hauptstadt des vereinten Landes, als europäische Metropole, als Hotspot der Medien- und Kreativwirtschaft. Und erneut richtet sich der hauptstädtische Blick, sofern er sich eine Pause von der berlinischen Selbstbezogenheit gönnt, auf Brandenburg, sei es aus kulturtouristischer Neugier, in dem Wunsch nach Naturnähe und Lebensübersichtlichkeit, oder auch nur, um bezahlbaren Wohnraum zu finden. Wer diesem Impuls folgt, dem kann es geschehen, dass sich unversehens ein Brandenburg-Augenblick ereignet, man könnte auch sagen, ein Fontane-Augenblick, wie nur Sie ihn in Worte fassen konnten: „Die Türe des Gartensaals steht offen, und Duft und Frische dringen ein. Die Sonne scheidet eben, und nur ein roter Streifen liegt noch über dem Schwarzgrün der Edeltannen. Erdbeerschalen schmücken den Tisch und lachen uns an, heiter und behaglich fließt das Gespräch. Aber auch das, was uns umgibt, führt seine Sprache. Jegliches, was seit Jahrhunderten hier war und wuchs, es ist nicht tot, es lebt und schafft und wirkt ein geheimnisvolles Band zwischen dem Vergangenen und dem Gegenwärtigen.“

Nächste Woche schreibt die Potsdamer Schriftstellerin Antje Rávic Strubel.

Alle Folgen der Serie „Briefe an Fontane“ anlässlich des 200. Geburtstages des Schriftstellers lesen Sie auf www.pnn.de/themen/fontane

Kurt Winkler

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