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Kultur: Krankheit der Jugend?

Ferdinand Bruckners expressionistisches Drama hatte am Jungen Theater Premiere

Vor achtzig Jahren feierte Ferdinand Bruckners Drama sensationelle Theatererfolge. „Krankheit der Jugend“ entstand in den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts und zeigt junge Menschen, die sich nach dem 1. Weltkrieg und seinen gesellschaftlichen und moralischen Verwerfungen in zunehmender Orientierungslosigkeit befinden. In seinem Drama werden wie unter einem Brennglas vier junge Frauen und drei Männer vorgestellt. Sie sind frisch promoviert oder noch auf dem Weg, ein Studium abzuschließen, haben sich der Dichtkunst verschrieben oder suchen wie das Zimmermädchen aus der Provinz ihr Glück in der Großstadt. Ausschweifende Sexualität und exzessiver Drogengenuss sind dabei sowohl Mittel zur Betäubung als auch zur Enthemmung des eigenen zumeist schmerzhaften Lebensgefühls.

Diese sieben Protagonisten treffen auch in der Inszenierung von Tobias Rott, die am Sonntagabend im Jungen Theater des HOT zur Premiere gelangte, aufeinander. Für die toughe und lebenslustige Marie (Jenny Weichert) scheint die Welt gerade sehr in Ordnung zu sein. Es ist der Tag ihrer Promotion – auf dieses Ziel hat sie jahrelang zielstrebig hingearbeitet – und so putzt sie für die abendliche Feier frühmorgens eigenhändig und energisch ihre Studentenbude. Ihrem Geliebten, dem weichherzigen Dichter Petrell (Peter Wagner) hat sie an ihrem Feiertag einen Rokoko-Schreibtisch geschenkt und außerdem hört sie ihrer hochbegabten Studienkollegin Desiree (Anne Lebinsky) vor deren Prüfung noch zum letzten Mal die „Vokabeln“ ab. Doch der aufziehende Tag entwickelt sich bei weitem nicht so, wie es sich Marie für ihre „Hochzeit“ vorgestellt hat. Den nächsten Morgen werden zwei Mitglieder ihrer „Clique“ nicht mehr erleben und sie selbst wird einsam und verzweifelt vor den Trümmern ihrer Existenz stehen. Jenny Weichert gelingt es, diese extreme Spannungskurve eindrücklich darzustellen.

In der Inszenierung von Tobias Rott, der bereits in der letzten Spielzeit am Hans Otto Theater „Mobil“ von Sergi Belbel inszenierte, wird die gesamte Geschichte ziemlich flott und beinahe atemlos erzählt. Der Gestus seiner Protagonisten ist dabei ein sehr heutiger, ihre Gesten eindeutig und die ausgestellte Sexualität kann nicht mehr wirklich schockieren. „Hut“ und „Mantel“ haben diese Damen und Herren schon lange abgelegt und wenn sie im „unvermeidlichen“ Schwimmhallenbühnenbild von Matthias Schaller in der Reithalle A bis auf einen allesamt in kurzen Hosen oder Slips und auch ansonsten spärlich bekleidet (Kostüme: Susanne Füller) erscheinen, ist auch das nicht anstößig. Doch da sind, und das ist das Einzige, was es rechtfertigt, dieses Stück auch heute zu inszenieren, die „großen“ Sinnfragen, denen sich junge Menschen zu allen Zeiten immer wieder neu stellen müssen. Und an denen nicht wenige von ihnen – auch gegenwärtige Selbstmordstatistiken zeigen das – ganz und gar zerbrechen.

Desiree, die 17-jährig aus hochherrschaftlichem, aber zerrüttetem Elternhause floh und sich seitdem nach nichts mehr als nach warmer Schwesternliebe sehnt und die cool-berlinernde Irene (Caroline Lux), die sozial aufsteigen und geliebt werden will. Oder der genusssüchtige und zynische Freder (Moritz Führmann), der Frauen und Männer wie Spielzeug benutzt, nicht zuletzt, um vor seinen eigenen Gefühlen davonzulaufen. Sie „spielen“ exzessiv mit den vorgefundenen Männer- und Frauenbildern und verlieren mehr oder weniger sich selbst dabei. Dabei sind sie als Typen sehr präsent, haben aber wenig Spielräume, sich als Charaktere zu entfalten. Einzig das Zimmermädchen Lucy (Friederike Walke), die eine „Metamorphose“ vom naiven Provinz- zum schillernden Straßenmädchen vollzieht, scheint auf den ersten Blick vor einem Neubeginn zu stehen und überzeugt in ihrer Wandlungsfähigkeit. Vor einem Anfang stand auch Alt – Alexander Weichbrodt als frischgebackener Arzt mit folgenschwerer Entscheidung – der als Figur eher blass blieb.

So sehr das Stück die Zerrüttung und Zerstörung zwischenmenschlicher Beziehungen auch heute noch punktuell spiegeln kann und es in der Inszenierung auch tut, so wenig ist es geeignet, in einer seitdem viel komplexer gewordenen Welt die Widersprüchlichkeit und Kompliziertheit heutigen „modernen“ Lebens einzufangen. Auch wenn es in den letzten Jahren in verschiedenen Teatern eine Renaissance erlebte: Es lässt den Betrachter einigermaßen distanziert zurück. Denn während die jugendlichen Leistungseliten in Bruckners Stück davor zurückschreckten, zu „verbürgerlichen“, scheinen heutzutage Leistungsorientierung und bürgerliche Werte der Schlüssel zum Erfolg zu sein. Allerdings nicht die Garantie dafür, sich in seinem weiteren Leben, nicht immer wieder neu auf die Suche machen zu müssen. Abstürze inbegriffen. Das Publikum dankte nach der an einigen Stellen durchaus bildstarken Inszenierung mit freundlichem, langanhaltendem Applaus.

Erneut am 26. November, 19.30 Uhr.

Astrid Priebs-Tröger

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