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Eine Hommage an die Zeitverschwendung. Nicolas Rossi konstruiert eigenwillige raumgreifende Installationen, wie die zusammengefaltete graue Flagge, die er „Vom Warten auf Farben und auf günstige meteorologische Verhältnisse“ tituliert.

© Manfred Thomas

Kultur: Kopflastig und poetisch

Drei Franzosen betreten im Kunsthaus „sans titre“ Zwischenräume und befragen ihre Identität

Manche Dinge passieren leise und unbemerkt und begeistern dann umso mehr. Wie im Kunsthaus „sans titre“. Wer den 60er-Jahre-Bau mit dem Charme eines Industrielofts betritt, atmet Weite und Klarheit. Die Vereinsmitglieder haben in den vergangenen Monaten erneut Hand angelegt und nun auch das Erdgeschoss entkernt. Keine düster verwinkelten Kammern mehr, dafür Licht und ein strahlend heller Fußboden. Eine Bühne, auf der Kunst atmen und sich entfalten kann.

Die derzeit gezeigte Ausstellung „Zwischenräume. Transformation und Identität“ passt also bestens zum eigenen Anspruch des Hauses, sich immer wieder zu verändern. Die Werke der drei Franzosen, die sich mit weitem Flügelschlag in den beiden Etagen ausbreiten, erzählen von ganz persönlichen Transformationen: von den Veränderungen des eigenen Ichs.

Eine weiße Traumgestalt nimmt den Besucher in Empfang. Mit abgeworfenen Ketten wiegt sie sich kopflos im zarten Windzug. „Nachts, furcht- und geräuschlos“ hat Sandra Riche ihre speziell für das „sans titre“ geschaffene Installation überschrieben, die die Schwere des Irdischen sprengt und dem Zustand zwischen Wachsein und Schlaf nachspürt. Aus einem aufgerissenen Kissen entfliehen wilde Träume und docken in verstümmelten Botschaften an den Wänden an. Spannungsgeladen wie Sprungfedern. Diese fragile Poesie findet sich auch in dem achtminütigen Film wieder, in dem Sandra Riche die eigene Familie zum Thema Älterwerden und Vergänglichkeit in Szene setzt: bruchstückartig zwischen den Generationen schweifend. Da tanzt ein junges Mädchen zu Akkordeonklängen, gespielt von lebensdurchfurchten Händen mit so sicherem Griff. Die Kamera schwenkt zwischen Symbolen des Erwachens und Vergehens: Ein Vogel, der seine Jungen füttert, ein verwaister Spielplatz, ein welkes Ahornblatt, das herunterweht. Ein assoziatives Spiel, das auf den ersten Blick banal erscheinen mag, aber doch die Sinne gefangen nimmt.

Weitaus analytischer und experimenteller geht der Weltenwanderer Nicolas Rossi zu Werke. Titel wie „Die Schwere der Leere“ oder „Vom Nebel an der Ziellinie“ lassen sein konstruiertes Herangehen erahnen. Eine sich über die Wand windende Schlange aus aneinandergebundenen gelben Schwimmflügeln nennt er „Die gemeinsam Sterbenden“. Eine mausgraue, akribisch zusammengefaltete Fahne ohne Emblem scheint raumhoch wie eine Standarte gegen nationalen Überschwang zu stehen. Für den Künstler ist sie indes eine Hommage an die Zeitverschwendung, die das Graue, das Ereignislose, Alltägliche und Fade zeigen soll, wie er in seiner Beschreibung erklärt. Der bekennende Liebhaber des Dadaismus holt Alltagsdinge aus ihrem Kontext heraus und erklärt sie zur neuen Sinneinheit: So wird eine Kakaoflasche zum „Molotov-Coctail“. Eine Herangehensweise, wie man sie von Marcel Duchamp kennt, der einst skandalträchtig ein Urinal zum Kunstwerk erhob. Zweite Heimat des derzeit in Leipzig Kunst studierenden Meisterschülers Rossi ist Französisch-Guayana. Von dort brachte er benutzte Zahnbürsten mit, die nun eingeschweißt an der Wand hängen. Er bat einen Indianerstamm, ihre alten Bürsten gegen neue einzutauschen und wollte wohl die landläufige Behauptung karikieren, dass man an Zähnen den Wohlstand der Menschen ablesen kann. Für ihn stehen die Bürsten im Kontrast zur industriellen Verpackung des Einschweißens als Zeichen der europäischen Überflusskultur. „In ehemaligen Kolonialgebieten von Großmächten gibt es keine kulturelle Zusammenführung, sondern nur Parallelgesellschaften, die friedfertig, aber ignorant zueinander in einem Land leben dürfen, welches beiden fremd ist“, schreibt Rossi.

Doch auch ohne dieses genau bemessene Kalkül der eigenwilligen kopflastigen Arbeiten lässt man sich zum Teil gern auf die spitzfindigen Werke ein. Wie auf die Videoaufnahme, die den Künstler beim Erobern eines Rasenstücks zeigt. Mit rot-weißem Flatterband steckt er sein Claim ab und pflanzt eine künstliche Orchidee, die natürlich keine Chance hat, anzuwachsen.

Kuratorin Andrea Lehner setzte ganz bewusst auf Kontraste und führte geschickt die sehr unterschiedlichen Handschriften zusammen. Mit Mehryl Levisse betritt der Besucher das Reich des Surrealen, in dem die Fantasie Purzelbäume schlägt und sich doch ganz ernst nimmt. Der aus Marokko stammende Franzose setzt sich zumeist selbst in Szene. So steckt er in einem Haufen von Baumstämmen, doch zu sehen sind nur seine Beine, die nun selbst wie abgehackte Stämme wirken. Dann wieder überziehen Schnecken sein regungsloses Gesicht, das dekorativ wie die Tapete im Hintergrund wirkt. Er zeigt sich gefangen in einem künstlich geschaffenen Raum, der Individualität beraubt. Gefangen in der eigenen Haut. Man ahnt, dass Mehryl Levisse das Thema seiner Homosexualität in den streng gebauten Fotos mit bearbeitet.

Nicht alles erschließt sich in dieser metaphorisch-erzählenden Ausstellung auf den ersten Blick, manches auch nicht auf den zweiten. Und doch bleiben viele Bilder wie die Schnecken auf der weichen Haut haften.

Zu sehen bis 8. Juli, Do bis So von 15 bis 19 Uhr, Französische Straße 18

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