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Knabenchor für Potsdam: Potsdams Sängerknaben

Die Stadt soll einen Jungenchor bekommen, der in der obersten Liga mitsingen will. Nur das Geld fehlt.

Sie singen nicht, sie spielen lieber Fußball. So das gängige Klischee über Jungen – und leider stimmt es auch: In Potsdams Kinderchören sind sie eine Seltenheit. In der Kinderkantorei an der Erlöserkirche etwa singen mehrere Dutzend Mädchen – und kaum eine Handvoll Jungen. Aber das Klischee stimmt wie immer auch nur zum Teil. Denn es ist ein Unterschied, ob die Jungen nicht gerne singen – oder ob sie ungleich gemischt nicht gerne singen. Sprich, ob es einfach uncool ist, in einem Chor mit so vielen Mädchen dabei zu sein.

Für Ud Joffe liegt es eindeutig daran: Jungen finden sich in Chören nicht wieder, weil sie sich sozial nicht zugehörig fühlen. Joffe ist selbst Vater dreier Jungen und musikalischer Leiter an der Erlöserkirche. Auch wenn Geschlechtertrennung beim Singen auf den ersten Blick völlig veraltet und unzeitgemäß erscheint: Ein eigener Knabenchor wäre, so Joffe, die Lösung. „Da war ich auch lange Zeit dagegen“, sagt er. „Ich merke aber doch, dass diese gesellschaftliche Gruppe der Jungs bislang, was das Chorsingen betrifft, einfach nicht angesprochen wird.“ Nicht aus konservativem Denken heraus komme deswegen die Idee eines Knabenchores, sondern: „Es geht darum, den Jungs etwas zu ermöglichen.“

Anders gesagt: Die Jungs sollen Stars nicht auf dem Feld, sondern in den Kirchen- und Konzertsälen der Stadt werden. Denn gute Knabenchöre garantieren mehr noch als gemischte Chöre viel Publikum, haben doch Stimmen von Jungen einen ganz eigenen Klang. Sind obertonreicher, silberner – und haben eben diesen Seltenheitsfaktor.

Berühmte Vorbilder gibt es zur Genüge, aus Wien, Leipzig, Dresden. Auch Potsdam konnte im vergangenen Jahrhundert mit dem Liturgischen Knabenchor aufwarten, geleitet von Wilhelm Kempff, dem Vater des berühmten Pianisten gleichen Namens. Vor gut 15 Jahren hatte sich Björn O. Wiede auf diese Tradition berufen und 2004 einen Knabenchor an der Nikolaikirche ins Leben gerufen. Doch damals war es bei dem Versuch geblieben. Nach kurzer Zeit schlief das Projekt wieder ein.

Damit es diesmal gelingt, hofft Joffe auf viele Befürworter. Als Chorleiter bereits designiert ist Hans-Joachim Lustig. Der Neu-Potsdamer leitet in der Nähe von Hamburg die renommierten Chorknaben Uetersen, mit denen Lustig, genauso wie mit seinem Kammerchorensemble I Vocalisti, bereits des Öfteren Preise bei internationalen Wettbewerben gewann.

Klar ist demnach auch der Anspruch: Der Knabenchor soll nicht einfach ein weiterer Kinderchor in der Stadt werden, sondern hochprofessionell. Mit mehreren Proben in der Woche und Gesangsunterricht mit einer Stimmbildnerin vom Berliner Staats- und Domchor. „Das ist im Grunde ein Chor für die Leistungswilligen“, sagt Hans-Joachim Lustig. „Ich freue mich über jedes Kind, das singt, aber die Jungs bei uns wären die, die mehr wollen. Das ist beim Fußball genauso. Wenn du in der hohen Liga im Jugendbereich spielen willst, trainierst du nicht nur einmal die Woche, sondern zwei- bis dreimal.“

Und eine weitere Unterscheidung ist Ud Joffe wichtig: Der Knabenchor soll auch kein reiner Kirchenchor werden, der regelmäßig vor allem die Gottesdienste einer Gemeinde verschönert, sondern ein stadtweites Angebot – interreligiös und offen. Geprobt werden könnte an der Erlöserkirche, sagt Joffe, aber das wäre nur ein Standort, ein zweiter vielleicht in Babelsberg oder einem anderen Stadtteil.

Die Sorge, dass die wenigen Jungen in den bestehenden Chören von einem Knabenchor in der Stadt noch abgeworben werden, kennt Hans-Joachim Lustig, verweist aber auf seine Erfahrung in Uetersen: „Es gibt ziemlich viele Jungs, die zu uns kommen wollen und die wir teilweise nicht nehmen können. Diese Kinder schicken wir zu den anderen Chören. Das kann sich also auch gegenseitig befruchten.“ (siehe Interview)

Monetäre Unterstützung, zumindest als Anschubfinanzierung, erhofft sich Joffe von Stadt, Land und auch von der Kirche, schließlich biete der Chor ein breites, anspruchsvolles Repertoire geistlicher Musik und könne in Kirchen – aber eben nicht nur – auftreten. Kulturamtsleiterin Birgit-Katharine Seemann zeigt sich der Gründung eines Knabenchores gegenüber aufgeschlossen, sagt aber auch: „Es muss geprüft werden, ob ein Knabenchor in die musikalische Landschaft der Stadt passt.“ Ein erster Schritt könnte sein, heißt es weiter seitens der Stadt, das Projekt im Rahmen der Chorförderung voranzubringen. Wie im vergangenen Jahr beträgt sie insgesamt rund 116 000 Euro. „Es besteht die Möglichkeit, sich auf diese Förderung zu bewerben und zunächst ein entsprechendes Chorprojekt zu starten.“ Die Ausschreibung der Förderung erfolge jetzt im Juli, der Chor könnte demnach, sollten auch das Land und andere Geldgeber mitspielen, bereits 2019 starten.

Etwa 40 junge Sänger bräuchte er, sagt Hans-Joachim Lustig, um zu beginnen. Ihm schwebt als erstes musikalisches Projekt unter anderem die Musik aus „Die Kinder des Monsieur Mathieu“ vor, dem erfolgreichen Film über einen Chor mit sogenannten Problemjungen in Frankreich in den 1950er-Jahren.

Der Pianist Wilhelm Kempff schrieb übrigens einst in seinen Erinnerungen über den Knabenchor seines Vaters: „Jetzt konnte der Vater sich aus den gesamten Schulen der Residenzstadt die musik- und stimmbegabtesten Schüler auswählen und er brauchte nicht wie weiland Diogenes viel mit der Laterne zu suchen, denn sie kamen in hellen Scharen angelaufen.“ Ein Zitat aus der Vergangenheit – aber vielleicht ja auch ein bisschen Zukunftsmusik.

Grit Weirauch

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