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Kultur: Kindheitsorte

Lesung aus dem Bildband „Kindheitsbilder“

Als Bernhard von Barsewisch 1991 das Gutshaus in Groß Pankow, aus dem seine Mutter stammte, gekauft und zu einer Augenklinik umgestaltet hatte, dauerte es nicht lange, bis er sich auch selbst in diesem Dorf in der Westprignitz niederließ. Es war für ihn eine Rückkehr. Damals, von 1941 bis 1945, als er in Perleberg die Volksschule besuchte, hatte er fast jedes Wochenende auf dem Familiengut in Groß Pankow verbracht. Obwohl man auch dort mit Lebensmittelmarken bezahlen musste, die ersten Ausgebombten einquartiert wurden, man Kriegsgefangene Zwangsarbeit verrichten sah und die Betroffenheit über die vielen Gefallenen wuchs, war von Barsewisch jedes Mal froh, aufs Dorf flüchten zu können. Dort lebten seine Verwandten, darunter seine geliebte Tante Annalies, die ständig Strümpfe strickte, dabei englische Romane las und glaubte, Marienkäfer mit Brotkrumen füttern zu können. In Groß Pankow konnte man auch nach Herzenslust angeln, Insekten sammeln, im großen Park mit den anderen Kindern des Gutshofs spielen. Und es gab besseres Essen. Als sich seine Familie im Februar 1945 einem Flüchtlingstreck Richtung Westen anschloss, konnte der damals Zehnjährige nicht ahnen, wie lange er diesen Ort seiner Kindheit nicht wiedersehen würde.

Der Mediziner und Publizist Bernhard von Barsewisch ist einer der vier Autoren der Erinnerungstexte und literarischen Essays, die dem Buch „Kindheitsbilder. Alltagsfotografie in Brandenburg seit 1848“ (Lukas Verlag Berlin) vorangestellt sind. Dieser prächtige Begleitband zur gleichnamigen Ausstellung im Haus der Brandenburgisch-Preußischen Geschichte enthält genau die Auswahl von insgesamt fast 350 Fotografien, die dort zu besichtigen ist. Bei seiner Präsentation am Mittwochabend im Kutschstall sind auch der Potsdamer Klaus Büstrin und der Schriftsteller Martin Ahrends aus Kleinmachnow zu Gast, deren Kindheitserinnerungen ebenfalls in dem Band zu lesen sind. Auch in ihren Texten ist das Politische im Alltag häufig präsent, dringt durch die geschilderten Erlebnisse oder Naturbeobachtungen immer wieder auch die Zeitgeschichte. Klaus Büstrin etwa, der seinen elegant erzählten Text auch bestens vorzulesen versteht, erinnert sich darin nicht nur gern an seinen ersten Besuch auf der Pfaueninsel oder daran, wie seine Liebe zur Musik geweckt wurde, nachdem er als Junge auf seltsame Weise in den Genuss eines Privatkonzertes des berühmten Pianisten Wilhelm Kempff gekommen war. Auch die Ausweiskontrollen auf der Glienicker Brücke und die gehörige Standpauke, die eine Volkspolizistin seiner Mutter hielt, beschreibt er ebenso anekdotisch. Mutter und Sohn waren erwischt worden, als sie aus West-Berlin heimlich Care-Pakete einschmuggeln wollten, konnten aber einen Gutteil ihrer Beute retten, da niemand die große Tasche des Jungen beachtete, welche die Mutter zuvor mit ihm getauscht hatte. In einem poetisch verdichteten Prosatext wiederum erinnert sich Martin Ahrends an seine Kindheit in Kleinmachnow. Da sind die Abenteuerspiele eines elfjährigen Jungen mitten im plötzlichen Grenzgebiet, das verbotene Spähen vom Dachboden aus nach den nur zehn Meter entfernten „Westhäusern“, aber auch die Bootstouren mit den Eltern auf der Havel und die „schiere Ereignislosigkeit“ der flachen schweigenden Landschaft. Vielleicht mehr noch als viele Fotografien in dem Begleitband spiegeln all diese Erinnerungstexte den Einfluss, den das wechselnde Zeitgeschehen auf das Alltagsleben der Heranwachsenden nahm. Daniel Flügel

Daniel Flügel

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