zum Hauptinhalt

Kinder, Angler, Tagelöhner: Die Wiederentdeckung der Geltower Fotografin Marie Goslich

Die Geltower Fotografin Marie Goslich sah auf die Welt vor 100 Jahren wie eine Frau von heute.

Geltow - Als das Fotografieren Anfang des 20. Jahrhunderts in Mode kam, waren lockere Schnappschüsse undenkbar. Wer aufs Bild wollte, musste still stehen, der langen Belichtungszeiten wegen. Die meisten Bilder dieser Zeit zeigen Menschen, die posieren. Wenn Marie Goslich mit ihrer Holzkastenkamera arbeitete, war es irgendwie anders. Sie schaffte es, dass die Menschen, die sie fotografierte, entspannt und gelöst wirken. Natürlich. Sie halten für die Fotografin zwar inne, aber sie posen nicht. Goslich zeigt sie beim Arbeiten, Kinder beim Spielen oder Angeln. Sie fotografierte auch Tagelöhner, Hausierer und Wanderer, Männer, die am Straßenrand im Gras liegen und dösen. Eine Frau mit Kiepe auf dem Rücken, die ihre Waren der Hausfrau anbietet. Hunderte Glasplattenfotos entstanden und blieben bei einer Familie in Geltow erhalten. Dort wurden sie vor einigen Jahren von der Geltowerin Krystyna Kauffmann entdeckt, die daraufhin zu Goslich zu forschen begann. Vor Kurzem ist ihr drittes Buch zu der besonderen Frau entstanden, am heutigen Donnerstag um 18 Uhr wird es im Potsdam Museum vorgestellt.

„Wäre Marie Goslich ein Mann gewesen, wären ihre Bilder heute weltweit bekannt“, sagt Kauffmann. So aber werden sie jetzt erst wieder entdeckt. Dabei war sie zu Lebzeiten durchaus als Journalistin anerkannt und wurde veröffentlicht.

Goslich wird 1859 in Frankfurt (Oder) geboren und wächst in einem gutbürgerlichen Haushalt auf. Von ihrem Vater, Appellationsgerichtsrat in Frankfurt, erlangt sie frühzeitig ein Gespür für die sozialen Probleme der Zeit. Goslich arbeitet nach einer Ausbildung in Berlin als Erzieherin und Lehrerin und beginnt bald, sozialkritische journalistische Beiträge für Zeitungen zu schreiben.

Zudem kann sie zeichnen und lernt das Fotografieren. Nun kann sie auch Bilder zu ihren Themen liefern. So ist sie beispielsweise für eine Krankenkasse in Berlin unterwegs, um die Lebensverhältnisse der armen Bevölkerung zu dokumentieren. Ihre Beiträge erscheinen in Berliner Tageszeitungen, aber auch in der „Zeit“, in Journalen, die in ganz Deutschland gelesen werden, im „Boten für die deutsche Frauenwelt“ und in „Bodenreform“. Mit dem Herausgeber Adolf Damaschke, Begründer der Landreformbewegung, ist Goslich befreundet.

Jahrelang arbeitet sie auch als Redakteurin beim Potsdamer Stiftungsverlag. Bemerkenswert sei, sagt Krystyna Kauffmann, dass sie sich, auch nachdem sie geheiratet hat und später als Witwe, weiterhin als berufstätige Journalistin versteht, wie es in historischen Adressbüchern zu lesen ist – ein sehr modernes Selbstverständnis.

Zum Land, wo ihre vielleicht wunderbarsten Bilder entstehen, hat sie eine besondere Beziehung. Zunächst verbringt sie in Geltow nur ihre Sommerfrische. Als sie in Folge der Inflation verarmt, zieht sie ganz hierher, wohnt jahrelang im Gasthaus Baumgartenbrück, in dem auch ihre vielen Glasplattennegative bis heute bewahrt wurden. Sie wird eine Landfrau, eine von ihnen, vielleicht ist auch das der Grund, dass die Menschen die Fotografin so dicht an sich heranlassen. Ihr unbefangen begegnen. Sie muss eine beeindruckende Erscheinung gewesen sein, wenn sie mit ihrer schweren Kamera und dem Wägelchen für die Glasplatten unterwegs war. „Sie hatte ja kein Atelier“, sagt Kauffmann, alles passierte unterwegs, draußen. Die Fotografin kommt zu den Menschen, nicht umgekehrt. So gelingen seltsam private Aufnahmen, Menschen beim Arbeiten in ihren Gärten, beim Ausruhen, beim Lesen oder Dösen. Jungs mit ihren zahmen Kaninchen, drei junge Frauen beim Spargelstechen auf dem Feld. Damen am Kaffeetisch, junge Männer beim Tennisspielen. Alltag in all seiner Vielfalt. Manches lässt sich heute nur noch schwer deuten. Das Mädchen auf dem Buchtitel trägt vermutlich eine Nachrichtentafel, mit der sie, vielleicht im Auftrag der Dorfverwaltung, von Haus zu Haus marschierte.

So sind Goslichs Fotos eine Art Bilderbuch. Ein berührendes und künstlerisches. „Sie hatte auch einen Blick für Bildaufbau“, sagt Kauffmann. Goslich entdeckte kostbare Momente, Randgeschichten, denen sie Aufmerksamkeit schenkte. Wenn eine junge Frau dem rastenden Drehorgelspieler im Garten ein Glas Berliner Weisse eingießt, dann wohnt der Situation ein seltsamer Frieden inne.

Immer wieder findet sich dabei der Schwielowsee, der das Leben in Werder und den Dörfern drum herum prägt. Sie fotografiert Angler und Bootsfahrer. Und einmal ist auch Marie Goslich selbst zu sehen: Im flachen Wasser einer Badestelle sitzt sie auf dem Rand eines Kahns, sie trägt nur ihre weiße Unterwäsche, knielange Rüschenhosen, und einen weißen Sonnenhut. Dabei blickt sie durch die Kamera, die vor ihr auf einem Stativ steht.

Kauffmann hat für das neue Buch „Marie Goslich. Ein Leben hinter Glas“ noch einmal alle Fotos gesichtet und sich entschieden, dieses Mal auch die weniger gut erhaltenen mitzunehmen. „Manche sind unscharf oder am Rand zerbröselt, sind fleckig oder es ist ein Sprung im Glas“, sagt Kauffmann. Sie stehen somit auch für ein Stück Fotogeschichte und Materialkunde.

Das dritte Buch werde bestimmt nicht das letzte zu Marie Goslich sein, sagt Kauffmann. Die Fülle an fotografischem Material und die Dichte ihrer Biografie habe sie überrascht. 1938 stirbt Marie Goslich in einer Nervenanstalt, in die sie die Nazis eingewiesen hatten, vermutlich wurde sie dort sogar ermordet. „Sie war einmal beim Nacktbaden erwischt worden und äußerte sich kritisch zur Politik der Nazis“, sagt Kauffmann. „Das hatte wohl ausgereicht, um sie abzuholen.“

 

 

 

 

Krystyna Kauffmann, Richard Reisen: Marie Goslich. Ein Leben hinter Glas. Kettler-Verlag Dort,

42 Euro.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false