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Kehlmann-Stück im HOT Potsdam: Schwanzwedeln und Beißreflex

Ein Thesenstück, als Krimi verkleidet: „Heilig Abend“ von Daniel Kehlmann untersucht am Hans Otto Theater das Wanken des Rechtsstaats.

Potsdam - Es gibt Stücke, die einen auf den ersten Blick einnehmen oder abstoßen. Die einen unmittelbar berühren, durchrütteln. „Heilig Abend“ von Daniel Kehlmann, das am Donnerstag in der Reithalle Premiere feierte, gehört nicht dazu. Es gehört zu der anderen Sorte. Zu den Stücken, die einen nicht überschwemmen, nicht auf den ersten Blick. Es ist ein Stück, das einem wenig schenkt, außer vielleicht die gut geölt dahinschnurrenden Dialoge. Es fordert Konzentration, genaues Hinsehen und Hinhören. Auch in sich hinein.

„Heilig Abend“, inszeniert von Andreas Rehschuh, ist ein Thesenstück, das sich als Krimi verkleidet hat. Keine Musik, kein Firlefanz. Nur Kehlmanns Text und, soviel vorweg, zwei Schauspieler, die ihre Sache ungemein gut machen. Der Beginn wirft einen mitten hinein in eine Verhörsituation, Fernseh-Déjà-vu. Allerweltsmann in Allerweltssacko, die Stirn in „Tut mir leid, aber Sie werden sehen, wir kochen Sie weich“-Falten gelegt, gespielt von Arne Lenk. Ihm gegenüber eine Frau, Judith (Marianna Linden). Philosophie-Professorin. Nervös, aber unverkennbar mit Haltung. Die wird sie bis zum Ende nicht verlieren. Zwischen den beiden ein Tisch, ein Telefon. Im Hintergrund eine digitale Uhr, es ist 22.30 Uhr.

„Gewalt heilt die Wunden, die sie schlägt.”

Die Zeit spielt hier eine Hauptrolle. „Ein Stück für zwei Schauspieler und eine Uhr“, hat Kehlmann seinen Text überschrieben. Um null Uhr soll eine Bombe explodieren, die Zeit läuft ab. Das glaubt zumindest der Ermittler, Thomas heißt er. Judith weiß mehr, davon ist Thomas überzeugt. Sie aber schweigt, verlacht ihn, streitet ab, redet über anderes. Ob es tatsächlich eine Bombe gibt, erfahren wir am Ende, Punkt null Uhr, mehr soll hier aber nicht verraten werden. Schuldig sind ja ohnehin immer die, die nicht so aussehen. 

Bombe ja oder nein – das liefert den Spannungsboden für diese nur anderthalb Stunden Theater, aber das Thema ist ein anderes. Wann ist Gewalt angebracht, wodurch lässt sie sich rechtfertigen – wenn überhaupt? Judith ist Expertin für Frantz Fanon, den französischen Wegbereiter der Entkolonialisierung, der schrieb (das Programmheft zitiert es): „Der kolonialisierte Mensch befreit sich in der Gewalt und durch sie.“ Oder, noch so ein Satz, den Judith gerne zitiert: „Gewalt heilt die Wunden, die sie schlägt.” Sartre.

Arne Lenk spielt auf beeindruckende Weise

Von struktureller Gewalt eines Frantz mit tz („Was soll das denn!“) will der Allerweltsmann Thomas nichts hören. Von Judiths Beispiel der Autoindustrie etwa, den Milliarden, die in die Autoindustrie investiert werden, „um den Menschen einzureden, dass sie Maschinen haben müssen, die sie mit einer Geschwindigkeit befördern, für die unser Gehirn nicht gemacht ist.“ Für Judith sind die Autounfälle gefährlicher als Dschihadisten, hält die Debatte um sie für eine „Ablenkung“: „Ihretwegen werden alle in ihrer Freiheit eingeschränkt, ihretwegen ist jeder verdächtig, der nicht einverstanden ist mit dem Status Quo.“ Stimmt das?

Thomas, der in dieser Geschichte den Rechtsstaat vertritt, nennt sie „Dschihad-Idioten“, es ist sein Job herauszufinden, wer einer ist. Der Rechtsstaat wankt in der Verfolgung von Unrecht auf dünnem Eis, darum geht es in diesem Stück. Ein Schritt weiter, und er ist in der Illegalität, manchmal ist der Schritt längst getan. Aber wäre das denn „rechtens“, wenn dadurch größeres Unheil verhindert würde? Wäre Judith, nur mal angenommen, eine Terroristin, wäre Thomas dann im Recht, sie gegen ihren Willen in seinem Büro festzuhalten? Was er nämlich tut. Nein, dass er Judith festhalte, sei keine Gewalt. Nur „eine Bitte um Auskunft“. Er steht hier wahrhaftig nicht gut da, der Rechtsstaat. Arne Lenk spielt seine Bipolarität auf beeindruckende Weise: pendelnd zwischen Beißreflex (in einer Szene drückt er Judith gewaltsam nieder) – und dem Schwanzwedeln eines handzahmen Schoßhündchens, das hofft, doch noch ein Knöchelchen (die ersehnte Information) des Gegenübers zu erhaschen.

Marianna Linden spielt mit Feuer

Marianna Linden spielt Judith mit Feuer für ihre Thesen, mit Wut und viel feinem Gespür für Spott – für diesen Ermittler, der ihr intellektuell unterlegen ist, diesen Mann, der sie begehrt. Sie ihn nicht. Mit Spott auch für den Zynismus eines Rechtsstaats, der offen zugibt, heute keine Mikrofone mehr bei den Leuten zuhause zu installieren – weil er weiß: „Heutzutage bringen die Leute die Mikrofone selbst nach Hause.“ Es sind Sätze wie diese, die sich einprägen, die zeigen, warum ein Theater, das am Puls aktueller Themen und gesellschaftlicher Dilemmata sein will, dieses Stück in den Spielplan genommen hat – auch wenn es nur insgesamt sechs Mal gespielt werden wird. 

Die Bühnensituation, in der sich das abspielt, ebenfalls von Andreas Rehschuh, belässt die Zuschauer da, wo dieses Stück sie haben will: bei sich. Die Wände des Büros sind gepolstert, Türen haben keine Klinken. Das Publikum sieht den beiden durch eine Glaswand zu. Wir sitzen da, wo im „Tatort“ immer die Kollegen den Verhören beiwohnen, um rechtzeitig einzuschreiten, wenn X mal wieder über die Stränge schlägt. Im Stück aber sind alle Kollegen im Urlaub, es ist Weihnachten. Die beiden da drinnen sind auf sich gestellt. Die einzigen Zeugen dessen, was da geschieht, sind wir. 

„Heilig Abend“, das nächste Mal am 30. April sowie am 3, 12. und 19. Mai in der Reithalle des Hans Otto Theaters.

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