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Schöner schweben. Die Barock-Bratsche von Annette Geiger hat Darmseiten, die weicher klingen, und ist etwas tiefer als ein modernes Instrument gestimmt.

© Ronny Budweth

Kammerakademie Potsdam: Die Vermittlerin

Annette Geiger spielt Bratsche. Ein Instrument, das unterschätzt wird, sagt die Kammermusikerin.

Der „Bratscherwitz“ hat bei Wikipedia einen eigenen Eintrag. „Es gibt wirklich viele“, sagt Annette Geiger. „Wir sind die Ostfriesen im Orchester.“ Und trotzdem spielt Annette Geiger, die ausgerechnet diesen Nachnamen hat, die Bratsche, auch Viola genannt. Das Instrument der Streichergruppe, dem gemeinhin wohl eher wenig Bedeutung zugemessen wird: Bratscher sitzen immer in der zweiten Reihe und spielen nur eine untergeordnete Rolle. Nicht die erste Geige, nicht die zweite, nicht das lieblich-umschmeichelnde Cello, nicht den unverzichtbaren Kontrabass.

Außerdem seien Bratscher etwas langsam und begriffsstutzig. „Sie wissen ja, Kollegin, lieber zu spät als zu früh und lieber zu tief als zu hoch“ – mit diesem Spruch wurde sie einmal in einem Sinfonieorchester begrüßt, wo sie bei den Bratschen aushelfen sollte. Sie war entsetzt und dachte: Dafür habe ich nicht studiert!

Mit eigener Stimme

Nein, Annette Geiger spielt auf den Punkt und ganz richtig, die Bratsche ist für sie keine Nische zum Verstecken. Sie hat sich ganz bewusst und gerne für ihr Instrument entschieden. „Ich hatte das Gefühl, ich kann mir von jeder Stimme das Schönste raussuchen. Ich kann vermitteln zwischen oben und unten.“ Außerdem ist es diese besondere Klangfarbe, für die sie sich begeistert: „Die Bratsche hat etwas ganz Warmes. Ihr fehlt die schrille, hohe E-Saite der Geige, dafür hat sie eine tiefe C-Saite.“

Natürlich fehlt ihr dadurch das hohe, strahlende oder auch mal scharfe Klangregister der Violine. Aber das braucht sie schließlich auch nicht. Sie schwebt mittendrin, sie gibt Volumen oder Erdung, mal Stütze, mal eine ganz besondere Resonanz. Und sie hat, wenngleich nicht so oft wie andere Instrumente, selbstredend eine eigene Stimme. Eine Aussage.

Von Anfang an im Orchester

Was macht sie, damit ihre Stimme im Ensemble nicht untergeht? „Ich melde mich schon, wenn ich gehört werden will“, sagt Geiger. „Ich spiele so, dass die anderen mich hören müssen.“ Damit ist nicht alleine die Lautstärke gemeint, sondern die Dynamik der Bratsche allgemein in einem Stück. Ihre Rolle. „Das kann ein Motiv sein, ein Akkord, eine Gegenstimme, die die Bratsche mit einer besonderen Gewichtung übernimmt und auskleidet“, sagt Geiger. „Und das ist etwas, das sich im Zusammenspiel mit den anderen entwickeln muss“.

Im großen Sinfonieorchester ist das freilich eher schwierig. Deshalb spielt Geiger am liebsten in Kammermusikensembles, in denen die Gefahr des Untergehens in einer Reihe von zwölf Bratschen-Kollegen gar nicht erst aufkommt. Die Potsdamer Kammerakademie ist gerade noch übersichtlich und intim genug. Von Anfang an gehört sie zu dem Orchester. Geiger war Mitglied im Oriol-Streichensemble, das 2001 mit dem Potsdamer Persius Ensemble zur Kammerakademie fusionierte.

Medizinstudium als Alternative

Annette Geiger stammt aus der Region Stuttgart und aus einer Familie, in der viel musiziert wurde. Sechs Kinder waren sie, wie ihre Geschwister lernte Geiger tatsächlich zuerst Violone spielen. Dann wurde im Familienorchester eine Bratsche gebraucht und sie wechselte mit 14 Jahren zu dem etwas größeren Instrument. „Ich habe damals ziemlich schnell gemerkt, dass die Bratsche mein Instrument ist“, sagt sie. Ein Schlüsselerlebnis seien Schuberts Streichquartette gewesen. Hier spürte sie, dass die Bratsche eben doch nicht nur Füllstoff ist, sondern eine eigene Stimme haben kann. Sie blieb bei der Bratsche, ging zur Musikschule, spielte in Jugendorchestern.

In den Ferien arbeitete sie bei den Festspielen Ludwigshafen als Platzanweiserin und erlebte große Solisten wie David Oistrach. Das habe sie durchaus beeindruckt. Über ihre eigene berufliche Zukunft war sie lange unentschieden. Erst als andere Mitspieler sich zum Studium verabschiedeten, begann auch sie, darüber nachzudenken, machte eine Aufnahmeprüfung, bestand und begann ein Studium. Probehalber, sagt sie. Denn sollte es nicht klappen, würde sie Medizin studieren. „Aber nach zwei Semestern war klar, dass ich das unbedingt wollte.“ Sie studierte in München bei Hariolf Schlichtig und Kim Kashkashian sowie am Salzburger Mozarteum bei Thomas Riebl.

Stücke, die noch keiner kennt

Wenn sie heute davon erzählt, in einer Mittagspause im Probenraum des Nikolaisaals, den Blick durch bodentiefe Fenster ins trübe Märzwetter gerichtet, dann schwingt eine Sachlichkeit mit, die zum Musizieren gar nicht passen will. Das ist zum Teil der aktuellen Lage geschuldet: In der Gruppe, die am Wochenende auftreten wird, gab es einige krankheitsbedingte, kurzfristige Neubesetzungen. Nun muss man schnell zusammenfinden. Die Neuen haben es doppelt schwer, denn die Stücke, die sie proben, sind keine, die man alle Jahre im Programm hat. „Ich glaube, diese Stücke hat noch keiner von uns gespielt“, sagt Geiger.

Es geht zurück in die Anfänge des Barock, zu Heinrich Ignaz Franz von Biber und Johann Heinrich Schmelzer. Der Kontrabassist Tobias Lampelzammer war auf diese selten gespielten Stücke gestoßen, die ihn begeisterten. Vom Bekanntheitsgrad eines Stückes lasse sich nämlich nicht unbedingt auf dessen Qualität schließen. „Es gibt viel Schönes, das in Bibliotheken lagert und nie gespielt wird.“ Die Sonaten aus „Fidicinium Sacro Profanum“ seien durchaus etwas Besonderes. Übersetzt bedeute der Titel etwa „Saitenwerke für kirchlichen und weltlichen Gebrauch“. Weil in kirchlichen Räumen damals keine Tanzmusik gespielt werden durfte, habe Biber seine fröhlichen Tanzrhythmen in einem Zwischenwerk versteckt, sagt Geiger. „Damit sie bei Gottesdiensten und ebenso zu höfischen Anlässen aufgeführt werden durften.“ Auch Schmelzer dachte bei seinen Sonaten sowohl an die Verehrung alles Himmlischen als auch an „Erholung des Geistes außerhalb“ dieser. So seien sehr farbige, kontrastreiche Stücke entstanden.

Geiger liegt das Barocke. Sie ist, neben der Kammerakademie, Mitglied in der Akademie für Alte Musik Berlin. Das heutige Konzert spielt sie mit ihrer Barock-Bratsche, Nachbau einer Guaneri. Ihre Kollegin dieser Besetzung besitzt die Zwillingsbratsche: ein Instrument vom selben Geigenbauer, aus demselben Stück Holz. „Die beiden sind vom Klang her fast gleich, ein wunderbarer Effekt, den man ganz klar heraushören kann.“ Das sei schon ein sehr besonderer Glücksfall.

Hintergrund:

Die Kammerakademie Potsdam (KAP) ist eines der wenigen selbstbestimmten Orchester in Deutschland. Die 33 Ensemblemitglieder sind Gesellschafter einer GmbH. Mitarbeiter der Verwaltung sowie der Chefdirigent, seit 2010 Antonello Manacorda, sind beim Orchester angestellt. Künstlerische und unternehmerische Entscheidungen werden von den KAP-Musikern getroffen. Neben Sinfoniekonzerten spielt Kammermusik an verschiedenen Orten eine große Rolle. 

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