zum Hauptinhalt
Botschafter kaukasischer Kultur. Junge Autoren aus Aserbaidschan, Armenien, Georgien und Russland waren zur Lit:potsdam im Hans Otto Theater geladen. Ihre Texte lasen HOT-Schauspieler wie Rita Feldmeier (2. Reihe, links).

© HOT

Kultur: Kafkas Kinder

Festival im Festival: Wie die Lit:potsdam im Rahmen von Next Stage Europe zwölf Autoren aus dem Kaukasus und Russland auf die Bühne brachte

Wo genau liegt eigentlich Aserbaidschan? Durch einen Blick auf die Karte lernt die mit eurozentristischem Tunnelblick gestrafte Autorin dieser Zeilen: südlich von Georgien, nördlich des Iran. Der Autor Orhan Bahadirsade kommt aus der Region Lerik, das ist fast 4000 Kilometer von Potsdam entfernt. Gestern war Orhan Bahadirsade im Hans Otto Theater zu Gast, als einer von zwölf Autoren aus Armenien, Aserbaidschan, Georgien und Russland. Ähnlich der Medea, die auch aus dem Kaukasus kam, stellten die Autoren als Boten einer fernen Kultur hier im Rahmen von Next Stage Europe im Schnelldurchlauf ihre Theatertexte vor.

Bestimmten Themen sind geografische Distanzen völlig egal, das zeigte der Textauszug von Orhan Bahadirsade (Jahrgang 1994). „Die Schauspielerin, die ihre Haare verkauft“ erzählt von einer Schauspielerin um die 70, die früher die großen und ganz großen Rollen spielte. Jetzt klingeln Anrufer bei ihr an: Ob sie ihr Haar verkaufen wolle? „Sagen wir mal, ja“, sagt die Schauspielerin, zwischen Starrsinn und Zartheit gesprochen von Rita Feldmeier, jedes Mal. Sie will nicht verkaufen, das wird rasch klar. Sie muss. Sie braucht das Geld. Es sind die Haare der Mary Tudor, der Julia, der Luise Miller!, ruft sie, aber ihr Gegenüber will nur den Preis wissen. Einen Preis für ihre Lebenserinnerungen, ihr Leben eigentlich, kann die Schauspielerin nicht nennen. Zum Schluss verkauft sie die Haare nicht. Sie verbrennt sie.

Altersarmut, die empörenswerte Vergänglichkeit des Lebens, Kritik an der Logik des Kapitalismus, der die Menschen zwingt, alles auf einen nennbaren Preis zu reduzieren: „Die Schauspielerin, die ihre Haare verkauft“ berührt die großen Themen, die auch hiesige Autoren umtreiben. Oder umtreiben könnten.

Die brutale Traurigkeit eines Gogol, die verzweifelte Orientierungslosigkeit eines Kafka steckten in mehreren Texten. Der Armenier Anusch Kotscharyan (Jahrgang 1990) etwa beschreibt in „Das Jahr ohne Sommer“ einen jungen Mann, Jean (gespielt von Eddy Irle), der, offenbar von Kriegserinnerungen versehrt, ein Buch veröffentlichen will. Das Verhandlungsgespräch mit dem Verleger wird zu einem Gefängnis: Die Tür, durch die er den Raum betrat, ist plötzlich verschwunden. Die Freiheit, von der der Verleger schwadroniert – „Wir leben in einem freien Land“ –, wird so als leere Worthülse entlarvt. Wieder geht es um die verschlingenden Strukturen des Marktes, allerdings auf surreal-albtraumhafte Weise.

„Das Jahr ohne Sommer“ spielt dezidiert auf die Kriegserfahrungen des 20. Jahrhunderts an und auch einige andere Stücke umkreisten historische Themen. Sucht man nach Differenzen zu dem, was in deutscher junger Dramatik so verhandelt wird, ist dieses Interesse für die Geschichte eine deutliche Differenz. Die georgische Autorin Lile-Lika Schengelia (Jahrgang 1988) nimmt sich mit Dagny Juel, der Geliebten von Edvar Munch und August Strindberg, eine historische Gestalt zum Vorbild, um eine Geschichte über Emanzipation zu erzählen. Und Feminismus, das bestätigten mehrere Autoren im Gespräch mit den Moderatoren Mario Salazar und Olga Grjasnowa, ist durchaus ein Reizthema in der Region. Wollte man in Georgien einen Theaterskandal provozieren, müsste man ein Stück über Genderfragen und Homosexualität schreiben, berichtete die Autorin Mariam Kukulawa.

„Es sind Texte, die ein angeschrägtes Bild von Wirklichkeit zeigen“, hatte Christopher Hanf zur Eröffnung des Abends völlig richtig über die Stücke gesagt. Auch das teilweise holprige In- und Hintereinander von gelesenen Texten, geführten Interviews und nur auf dem Papier anwesenden Autoren hatte teilweise kafkaeske Züge. Sollte Next Stage Europe im nächsten Jahr wieder an der Lit:potsdam andocken, was auch für Potsdam und das Hans Otto Theater mehr als wünschenswert ist, dann wäre ein weniger ehrgeiziges Programm mit weniger Autoren eindeutig empfehlenswert. Auch wenn das Goethe Institut, als Initiator des Ganzen, für Kulturaustausch mit voller Kraft steht.

Am Ende des gut zweistündigen Abends triumphierten noch einmal das Surreale – und Rita Feldmeier. Diesmal spielt sie eine Möchtegernschauspielerin, die trotz ihrer 150 Kilo unbedingt Schneewittchen sein will. Schließlich bekommt sie ein Prinzessinnenkleid geschenkt. Ihre Freude darüber ist grenzenlos, unverstellt. Wie die jener anderen Schauspielerin über ihre Haare, bevor sie sie verbrannte.

Zur Startseite