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Julia Schochs Roman "Mit der Geschwindigkeit eines Sommers": Versöhnung heißt Verrat

Lauter Abschiede: Julia Schochs "Mit der Geschwindigkeit des Sommers".

Wenn das, was man vor sich selbst als „Traum“ bezeichnet, urplötzlich keiner mehr ist, sondern Realität – was kommt dann? Wenn der größte Traum der Bevölkerungsmehrheit der DDR der von einer wie immer gearteten Freiheit gewesen sein sollte, muss das Erwachen umso bitterer gewesen sein. Um diesen Prozess der Desillusionierung und der daraus entstandenen Leerstelle kreist Julia Schochs neuer Roman unaufhörlich. Einzelne Elemente des Romans dürften als autobiografische Partikel zu rekonstruieren sein: Julia Schoch wuchs als Tochter eines NVA-Offiziers in einer aus dem Boden gestampften Kasernenstadt in Mecklenburg/Vorpommern auf. Eine ebensolche ist auch der zentrale Ort des Romans; von dort stammen die Ich-Erzählerin und ihre ältere Schwester.

„Mit der Geschwindigkeit des Sommers“ ist ein Abschiedsbuch in mehrfacher Hinsicht: In der Binnengeschichte nimmt die ältere Schwester Abschied von der DDR, von der Beziehung zu ihrem Liebhaber (nur „der Soldat“ genannt), von ihren Träumen und schlussendlich auch von ihrem Leben. Die Erzählerin wiederum nimmt Abschied von der Schwester, die kurz nach der Wende ihren Liebhaber, ihren Mann, ihre Kinder und das Haus in der Neubausiedlung am Waldrand zurückgelassen hat, um nach New York zu fahren und sich dort, im Augenblick der vermeintlich größtmöglichen persönlichen Freiheit, mit Schlaftabletten umzubringen. Der Roman ist eine Spurensuche und ein Erklärungsversuch zugleich, und wenn Julia Schoch ihr eigenes Erzählen zulässt, gelingen ihr hin und wieder starke und dichte Szenen, in denen tatsächlich jene tragisch-ambivalente Disposition des Gemütszustandes der Schwester aufscheint. Die Scham, das Begrüßungsgeld entgegenzunehmen, und dann auch noch für das eigene Kleinkind dazu, ist ein solcher. Auch der breiteste Handlungsstrang, die nach Jahren wieder aufgenommene Liebschaft zu dem „Soldaten“, der längst keiner mehr ist, gibt schlaglichtartig Einblicke in ein zerrissenes Leben.

Festzustellen ist eine stetige Veränderung der Schwester ins Ungute unter den Bedingungen des neuen Warenkapitalismus. „Obwohl das Sparen nicht nötig war, wurde es zu einer Art Hobby. Sie studierte die wöchentlichen Werbeblätter der Drogerieketten und Supermärkte, auf der Suche nach einem günstigen Angebot. Für einen bestimmten Eistee fuhr sie in den einen Markt, für Spülmittel in einen anderen, billige Glühlampen holte sie wieder woanders.“ Eben eine solche Verhaltensweise hat der in Frankfurt am Main beheimatete Schriftsteller Peter Kurzeck bereits vor Jahren als den alptraumhaften Exzess einer mobilen Überflussgesellschaft beschrieben. So kann man ein leeres Leben auch füllen.

Julia Schoch erzählt in einer kühlen, klaren, lakonischen Sprache, die in einer irritierenden Diskrepanz steht zu dem, was die Autorin ihrem schmalen Roman als zweite Erzählebene aufgebürdet hat – eine Reflexion über die Genauigkeit und Zuverlässigkeit von Erinnerung, gepaart mit einem poetologischen Selbstgespräch der aufzeichnenden Schwester über die Methode ihrer eigenen Arbeit. „Plötzlich der Gedanke: eine schillernde Saga über all das zu schreiben (sich also in dem Stoff zu aalen), würde bedeuten, sich damit auszusöhnen. Was wiederum hieße: Verrat.“ Man mag diesen Reflex einer jungen, ostdeutsch sozialisierten Autorin verstehen; Antje Ravic Strubel bediente sich in ihrem Roman „Tupolew 134“ einer ganz ähnlichen Verkomplizierungstechnik – bloß nicht dem Stoff verfallen, bloß keine nostalgisch angehauchte DDR-Geschichte erzählen. Gut so. Im Prinzip jedenfalls. Doch was Julia Schoch in „Mit der Geschwindigkeit des Sommers“ in dieser Hinsicht leistet, ist dann doch ein wenig banal. Dass die Vergangenheit vergangen ist und späterhin nicht durch ihre eigentlichen Akteure, sondern nur aus der Perspektive des Chronisten erhalten bleibt, ist keine sehr originelle Erkenntnis.

„So wird“, schreibt die Erzählerin, „zum Beispiel das, wovon ich hier nicht spreche, vollends ausgelöscht, indem ich es beiseite lasse. Bald schon werde ich mich an meine Schwester nur noch in Szenen und Gedanken erinnern, wie ich sie hier notiere: Erinnern ist eine Art zu vergessen.“ Das ist ein Grundgedanke der literarischen Moderne, der noch einmal brav aufgesagt wird. „Mit der Geschwindigkeit des Sommers“ ist für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert, vielleicht auch eine Ost-West-Proporz-Entscheidung: In den vergangenen beiden Jahren haben mit Ingo Schulze und Clemens Meyer ostdeutsche Autoren die Auszeichnung erhalten, jeweils für Erzählungsbände. Julia Schoch und ihrem merkwürdig gehemmten Buch dürfte das in diesem Jahr kaum widerfahren.

Julia Schoch: Mit der Geschwindigkeit des Sommers. Roman. Piper Verlag, München 2009.

149 Seiten, 14, 95 €.

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