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Rachel Sennott in der Familienkomödie „Shiva Baby“.

© Mubi

Jüdisches Filmfestival Berlin Brandenburg: Küsse auf der Trauerfeier

Am Donnerstag beginnt das Jüdische Filmfestival Berlin Brandenburg. Die neue Leitung will Klischees brechen.

Ein Mann steht auf seinem Balkon und schickt Lichtzeichen in die Nacht. Ein-, zwei-, dreimal. Aus dem Dunkel blinkt es zurück. Der Mann lacht. „Gute Nacht“, sagt er ins Telefon. Der Mann heißt Mustafa, er wohnt im Westjordanland. Seine Frau und die drei Kinder wohnen drüben, im Dunkel. Auf der israelischen Seite. Dazwischen nur 200 Meter. Ein Klacks eigentlich, wäre da nicht auch eine Mauer.

„200 Meters“ heißt der Film von Ameen Nayfeh, der sich als einer von zehn Filmen beim Jüdischen Filmfestival Berlin-Brandenburg um den Hauptpreis bewirbt. Es ist nicht der lustigste, schillerndste oder prominenteste Film im Spielfilm-Wettbewerb, aber vielleicht der bemerkenswerteste. Es ist ein palästinensischer Film und beschreibt jüdisches Leben, aber von den Rändern her. Israelis tauchen hier als Grenzsoldaten oder Beamte an den Checkpoints auf, durch die Mustafa jeden Tag muss.

Das Jüdische Filmfestival, gegründet 1994 von Nicola Galliner, präsentiert sich erstmals unter neuer Programmleitung. Eine Zäsur. Statt einer einzigen Programmverantwortlichen gibt es nun ein fünfköpfiges Kollektiv. So wird sichtbar, wofür das Festival inhaltlich auch unter der Gründungsdirektorin Galliner schon stand: Diversität als oberstes Prinzip. Den Juden gibt es nicht, ein für alle Mal.

Der Regisseur Arkadij Khaet ist Teil des neuen Kollektivs. Er beobachtet eine Funktionalität, die jüdische Figuren im bundesrepublikanischen Film „lange hatten und haben“: „Jüdinnen und Juden als Opfer der Shoah.“ Davon will das Festival weg. Sein mit dem Grimme-Preis ausgezeichneter bissiger Kurzfilm „Masel Tov Cocktail“ setzt dem Opfer-Klischee einen gewaltbereiten Juden entgegen.

Neben Arkadij Khaet im Programmkollektiv sind der israelische Filmemacher und Produzent Amos Geva, die ebenfalls israelische Produzentin Naomi Levari, die an der Babelsberger Filmuni forschende Medienwissenschaftlerin Lea Wohl von Haselberg – und, als Einziger ohne jüdische Wurzeln, Bernd Buder, Programmdirektor des Filmfestivals Cottbus.

Mehr Filme für Potsdam

Buder bringt Kuratoren- und Brandenburg-Expertise mit. „Es sind 2021 ja nicht nur 1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland, sondern auch 350 Jahre jüdisches Leben in Brandenburg zu begehen“, sagt Buder. Das Festival will die Fühler künftig intensiver nach Potsdam ausstrecken. Schon in diesem Jahr werden dort erstmals alle Filme gezeigt. „Potsdam hat sein Festivalpotenzial noch nicht ausgeschöpft.“ Das soll künftig anders werden.

Den Festival-Auftakt macht „Shiva Baby“, eine US-amerikanische Produktion von Emma Seligmann. Ein Film, der Klischees aufs Lustvollste aufnimmt – und demontiert. Die großartige Rachel Sennott spielt Danielle: jung, orientierungslos. „Shiva Baby“ guckt ihr gnadenlos beim Schwanken zwischen den Welten zu. Eben noch lässt sie sich von ihrem älteren Lover für Sex bezahlen, dann geht sie brav zu einer Schiwa – eine traditionelle Trauerfeier.

[Jüdisches Filmfestival Berlin Brandenburg, vom 12. bis 22.8. an neun Berliner und vier Potsdamer Spielorten. Programm und Karten unter www.jfbb.info/programm]

Dort wird weniger getrauert als gegessen, geguckt, getratscht. Danielles Liebhaber taucht auf, mit Gattin und Baby, ebenso wie eine Freundin aus Schultagen. Hier verbirgt sich die eigentliche Liebesgeschichte – aber küssen dürfen sich die Frauen nur versteckt hinterm Haus. Je mehr Danielle ins Wanken kommt, desto mehr wankt das Bild. Räume werden eng, Farben verzerrt. Eine Komödie, ja – aber nahe am Breakdown.

Für Arkadij Khaet ist „Shiva Baby“ symptomatisch für eine neue Generation, „die sehr gegenwärtig erzählt“. Auch in Deutschland beobachtet er eine neue Generation von Juden, „selbstbewusst und auch selbstbestimmt“. Er selbst wurde 1991 in Balti in der Republik Moldau geboren, wuchs im Ruhrgebiet auf und zählt sich zu denen, „die jetzt Gelegenheit haben, auch ein Stück vom Kuchen einzufordern“. Seine Eltern hatten ganz andere Probleme als über ihre Identität nachzudenken. Aber jetzt ist eine Generation nachgewachsen, die das nachholt.

Wut, die lange unterdrückt wurde

Dazu zählt auch die 1983 in München geborene Regisseurin Sharon Ryba-Kahn, die an der Filmuni Babelsberg promoviert. Ihr Film „Displaced“ ist als einer von acht im Rennen um den neuen Dokumentarfilmpreis des Festivals. Bernd Buder bezeichnet „Displaced“ als programmatisch für eine neue Auseinandersetzung mit dem Judentum in Deutschland, ein Film, der eine neue Qualität in den Diskurs um die Erinnerungskultur mitbringt. Wut.

In „Displaced“ sucht Ryba-Kahn die Wieder-Annäherung an ihren Vater, ein Kind von Shoah-Überlebenden, die sich nach dem Krieg entschieden, in Deutschland zu leben. „Displaced“ zeigt das Schweigen des Vaters, sucht den Austausch mit ihm, der, so scheint es, lieber Golf oder Bridge spielen will. Konfrontiert auch ehemalige Münchner Mitschülerinnen der Regisseurin mit deren beschönigendem Blick auf die NS-Vergangenheit. Eine von ihnen fragt Ryba-Kahn: „Wusstest du eigentlich, wie wütend ich war, die ganze Zeit?“

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Die Bandbreite der 27. Festivalausgabe ist groß. 46 Filme werden gezeigt, darunter einer von Andreas Kleinert über Thomas Brasch („Lieber Thomas“) und ein Actionthriller mit August Diehl als Shoah-Überlebender, der aus Rache das Nürnberger Trinkwasser vergiftet („Plan A“). Was wäre das nun also, das jüdische Etwas eines Films? „Eine gewisse Frechheit, ein gewisser Witz“, wie Galliner gesagt hatte? Khaet erwidert, er kenne auch ziemlich humorlose jüdische Filmemacher. Für ihn ist es eine Frage der Perspektive. „Aus meiner Sicht ist es ein Blick auf die Gesellschaft aus einer Minderheitenposition heraus.“

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