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Joachim von Vietinghoff vor seinem Arbeitszimmer in der Remise seines Hauses.

© Andreas Klaer

Joachim von Vietinghoff: Ein Mann mit Visionen und Fortune

Er hat 70 Filme produziert und einen Goldenen Bären gewonnen: Seit 1998 lebt Produzent Joachim von Vietinghoff in Sacrow. Jetzt ist er 80 geworden.

Potsdam - Der Himalaya liegt an der Côte d’Azur. Joachim von Vietinghoff hat ihn mehrmals bestiegen. Auf dem Weg dahin läuft man über einen roten Teppich, und es spielen die Fanfaren. Viermal hat Joachim von Vietinghoff das erlebt: So oft waren Filme, die von ihm produziert oder mitproduziert wurden, beim Filmfestival in Cannes zu Gast. 1980, 1981 und 1983 war das – und zuletzt 2007, mit Béla Tarrs außergewöhnlichem „The Man from London“: 132 Filmminuten, 29 Einstellungen.

Im Leben des Joachim von Vietinghoff hat es viel „Fortune“ gegeben. So sagt er das selbst, mit französischem Ü. Die Einladungen nach Cannes aber waren Momente absoluten Glücks. Dort lief außer „The Man from London“ auch Bernhard Sinkels RAF-Film „Kaltgestellt“, der erste Film des Theaterregisseurs von Luc Bondy („Die Ortliebschen Frauen“) sowie der erste Film des Autors Thomas Brasch („Engel aus Eisen“) und das Kinodebüt von Peter Keglevic („Bella Donna“).

Filme, die etwas wagen

Schon diese kleine Auswahl lässt ahnen, was die Filmbiografie dieses Produzenten ausmacht: Sie schreien nicht nach Massenpublikum oder großem Gewinn, sind das, was von Vietinghoff „Unikate“ nennt. Filme, die etwas wagen und für die aus Produzentensicht etwas gewagt werden musste. Joachim von Vietinghoff wagte gerne etwas. Und er produzierte nie nach Masse, wählte aus, machte nur Filme, hinter denen er auch stand. Was zu einer erstaunlichen Bilanz führt: Unter den 70 Filmen, die er bis 2011 produzierte, gibt es nur zwei, die er für Fehlgriffe hält.

Seit 1998 wohnt Joachim von Vietinghoff in Sacrow, nur wenige Minuten vom Seeufer entfernt. Auch das, wie so vieles in seinem Leben: ein glücklicher Zufall. 1997, er lebte noch in Berlin, las er beim Frühstück in der Zeitung von einem der besten Badeseen Brandenburgs: in Sacrow. Das Haus, in dem er heute wohnt, faszinierte ihn damals auf den ersten Blick. „Ein Vermächtnis“, sagt er. Und ein Zufall, „eine dieser Geschichten“: Damals wurde gerade darin gedreht. Den Produzenten kannte er. Ein Omen? Das Haus jedenfalls ließ ihn nicht wieder los.

Die Heilandskirche südlich des Dorfes Sacrow am Ufer der Havel. 
Die Heilandskirche südlich des Dorfes Sacrow am Ufer der Havel. 

© Soeren Stache / dpa

„Man spürte dem Ort damals seine Verletzungen noch an“, sagt von Vietinghoff. Solange die Mauer stand, war Sacrow komplett eingegrenzt. In den großen Villen befanden sich Alten- und Kinderheime. „Das war schon auch ein bisschen bedrückend.“ Dennoch, die Idee packte von Vietinghoff wie ein Rausch: „ein Haus am See“. Er zieht her, ist 2002 Gründungsmitglied des Vereins Ars Sacrow e.V., der sich mit dem künstlerischen Erbe Sacrows beschäftigt. Die Film-Trilogie „Gärtner führen keine Kriege – Preussens Arkadien hinter dem Stacheldraht“ entsteht. Er gräbt sich in die Geschichte seines Lebensmittelpunktes wie früher in seine Filme.

Produzenten sind die mit der meisten Macht

Fragt man Joachim von Vietinghoff, was ein Produzent vor allem braucht, sagt er: „Eine Vision“. Er muss ein Potenzial erkennen, es mit aller Kraft verwirklichen wollen. Muss vor Drehbeginn das Geld beschaffen, die Idee verkaufen, und während des Drehs auch ein bisschen „Papa“ sein. „Der Produzent ist der, nach dem sich alle umdrehen, wenn es Probleme gibt – und der sich dann selber umdreht und merkt: Da ist ja keiner.“

Produzenten sind die mit der größten Verantwortung und auch die mit der meisten Macht im Filmgeschäft - das ist Joachim von Vietinghoff bewusst. Als die MeToo-Debatte aufflammte, befragte er sich, ob er selbst je eine Linie überschritten hatte. Er konnte nichts entdecken. Wo es Anziehung gab, beruhte die auf Gegenseitigkeit: Seine einzige Tochter hatte er mit einer Frau, die mal bei ihm unter Vertrag war. Gehadert hat er mit dieser Position nur, als ihm bewusst wurde, dass auch er eine gewisse Rolle zu spielen hat. Dass er am Set nicht zuerst mit den Technikern plaudern darf, sondern direkt „in den Glutkern“, zum Regieteam muss. Hierarchien einhalten.

Joachim von Vietinghoff in seinem Arbeitszimmer mit dem Goldenen Berlinale-Bär.
Joachim von Vietinghoff in seinem Arbeitszimmer mit dem Goldenen Berlinale-Bär.

© Andreas Klaer

Eine Palme aus Cannes gab es für Vietinghoffs Filme nie. Den wichtigsten Preis erhielt er in Berlin. Und er erhielt ihn früh, 1979. Da war Joachim von Vietinghoff noch keine 40 und gerade mal zehn Jahre im Produzentengeschäft. Peter Lilienthals „David“ bekam damals nicht nur den Deutschen Filmpreis (einer von vieren für den Produzenten), sondern auch den Goldenen Bären. Die Trophäe steht bei Joachim von Vietinghoff heute zuhause, für das Gespräch aber hat er sie in sein Arbeitszimmer geholt. In der Ecke stehen die Drehbücher aus vierzig Jahren übereinander: übermannshoch. Ein Produzent ist auch ein Jongleur. Hinter zwei realisierten Projekten stehen acht nicht umgesetzte. Ein „visionärer Jongleur“: Darin fühlt er sich gut beschrieben.

Joachim von Vietinghoff beim Freiluftkino im Wirtschaftshof von Schloss Sacrow bei der Filmreihe zu seinem 80. Geburtstag.
Joachim von Vietinghoff beim Freiluftkino im Wirtschaftshof von Schloss Sacrow bei der Filmreihe zu seinem 80. Geburtstag.

© Manfred Thomas

Heute ist der Goldene Bär Dekoration, 1979 war er ein Türenöffner. Plötzlich kannte man ihn, feierte ihn, traute ihm. Vertrauen: für einen Produzenten das vielleicht größte Kapital. Und der Ritterschlag für einen, der sich vieles selbst beigebracht hat. Dabei hatte er eigentlich Bildjournalist werden wollen. 1941 in München geboren, dort studierte er Ende der 1950er Jahre Bildjournalismus, war danach bis 1966 bei der Presseagentur Keystone angestellt. Ein Foto im Arbeitszimmer aus der Zeit zeigt ihn mit Porsche, „das James-Dean-Modell“. Auch später war die Automarke nicht egal.

Die Suche nach dem einen, richtigen Bild reizte ihn, aber sie genügte ihm nicht. Je mehr Bilder er machte, desto mehr interessierten ihn die Bilder davor und danach. Der Gedanke an ein Kamerastudium lag nahe. Aber nochmal vier Jahre warten? Dann lieber anders Film lernen: in der Praxis, als Produktionsleiter.

Schon der Film, für den er 1970 eine eigene Produktionsfirma gründete, war ein Wagnis: das Filmdebüt des Theaterregisseurs Roland Gall mit einer Verfilmung jenes Drehbuches, das Ödön von Horváth unter dem Arm trug, als ihn 1938 in Paris ein Ast erschlug. „Jugend ohne Gott“ hieß das Stück, der Film von 1970 heißt: „Wie ich ein Neger wurde“.

Regisseur und Schauspieler Dirk Kummer und Produzent Joachim von Vietinghoff im Spiegelsaal von Schloss Sacrow.
Regisseur und Schauspieler Dirk Kummer und Produzent Joachim von Vietinghoff im Spiegelsaal von Schloss Sacrow.

© Manfred Thomas

Einem Prinzip ist Joachim von Vietinghoff als Produzent von Anfang an treu geblieben: Das Projekt, und auch der Mensch dahinter, muss zum Verlieben sein. „Eine gewisse Erotik muss da sein.“ „Immerhin wird man mit der Person und dem Projekt ja vermutlich mehrere Jahre verbringen.“ Damit ist keine Besetzungscouchtümelei gemeint. Sondern das Flimmern eines Thomas Brasch etwa, der auf Empfehlung von Volker Schlöndorff zu ihm kam und ihm sofort gefiel. Oder die Unbedingtheit eines Hellmuth Costard, der für „Echtzeit“ unmögliche Forderungen stellte (drei Kameras in Dauerbetrieb, drei Jahre Drehzeit). Oder die Perfektion und düstere Komik eines Lars Kraume, den Joachim von Vietinghoff zu seinen Entdeckungen zählt.

2011 produzierte er seine letzten Spielfilme. 2012 gründete er gemeinsam mit Hans W. Geißendörfer und Andreas Vogel alleskino.de. Ein Onlineportal für deutsche Filmproduktionen. Eine Schatzkiste: Inzwischen sind 1200 deutsche Filme dort versammelt. „Das“, sagt er, „ist mein eigentliches Vermächtnis.“ Es wiegt sogar schwerer als der Goldene Bär auf seinem Schreibtisch.

„Paradies gefunden?“, Gespräch mit Joachim von Vietinghoff, sowie der Film „David“, am 5. November 2021 ab 18.30 Uhr im Schloss Sacrow

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