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Jahresrückblick 2017: Melodika rockt

In der POPULÄRMUSIK gab es im Jahr 2017 Höhepunkte und auch Tiefpunkte. Die Überraschung des Jahres stand im Juni bei „Jazztime in Babelsberg“ auf der Bühne.

HÖHEPUNKT

Den musikalischen Höhepunkt gab es im August in der fabrik – von einer Potsdamer Band. Unter dem Bandnamen Minerva hatte sich die psychedelische Krautrockband aus dem Musikerkollektiv Brausehaus längst auch außerhalb von Potsdam eine wachsende Gemeinde erspielt und eigentlich hätte es ewig so weitergehen können. Stattdessen wurde noch mal neu gewürfelt: ab jetzt heiße die Band Eat Ghosts. So eine Neuerfindung hat durchaus Potenzial zur Hiobsbotschaft – aber die Angst war unbegründet: Eat Ghosts verabschiedeten sich nämlich nicht erst der metaphorischen Schwere des Minerva-Universums, sondern legten mit dem Album „ANT/EGO“ sogar noch eine Schippe verkopft-theatralischer Finesse obendrauf – bombastisch, ausgeklügelt, zutiefst theatralisch.

TIEFPUNKT

Den musikalischen Reinfall ersparte einem das Jahr 2017, einen wuchtigen Kopfkratz-Moment gab es jedoch: als Anfang April im Lindenpark die Reste von Ton Steine Scherben spielten. Rio Reiser ist 21 Jahre nach seinem Tod in einer Phase der Renaissance, in der nur noch seine Wiederauferstehung fehlt. Stattdessen gibt es die leicht ergreisten ehemaligen Weggefährten, denen der Nimbus der Pleite anhaftet. Dementsprechend schal ist der Beigeschmack. Auch wenn das Konzert selbst nicht mal misslingt – was jedoch nur am Liedermacher Gymnick liegt, der Reiser mehr interpretiert als kopiert.

ENTDECKUNG

Die Überraschung des Jahres stand im Juni bei „Jazztime in Babelsberg“ auf der Bühne, gehörte da aber gar nicht hin. Eigentlich gehört das Duo nirgendwo hin, weil es einfach keine passende Schublade gibt: Gustav und Gerlinde stehen mit – Achtung! – Melodika und Sousaphon auf der Bühne. Verkleidet als Schlager-Groteske. Der Witz benötigt tatsächlich eine ganze Weile, bis er zündet – dann geht jedoch der Punk ab. Ein kabarettistischer Rundumschlag aus Pop, Volksmusik und Jazz, der deshalb funktioniert, weil er nicht funktionieren darf. Und während sich die musikalische Erwartungshaltung noch windet und wehrt, bohrt sich die Musik unweigerlich voran – und schlägt gnadenlos zu. Was bleibt, ist ein tränenreicher Abend. Vor Lachen. Verrückt! 

Oliver Dietrich

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