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Buchpreisträgerin Antje Rávik Strubel. 

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Interview | Buchpreisträgerin Antje Rávik Strubel: „In mir kreuzen sich die unterschiedlichsten Erfahrungen“

Ostdeutsch, queer, brandenburgisch? Buchpreisträgerin Antje Rávik Strubel im Gespräch über enge Labels, westdeutsche Übergriffigkeit und die Klarheit des Blicks auf das Eigene aus der Ferne.

Frau Strubel, als „Blaue Frau“ ausgezeichnet wurde, schrieben wir: Der erste Deutsche Buchpreis für eine „Potsdamer Autorin“. Fühlen Sie sich mit dem Label eigentlich gut beschrieben?
Das kommt darauf an, wie man das versteht. Ich bin insofern Potsdamerin, als ich hier wohne und geboren wurde, obwohl ich nicht hier aufgewachsen bin. Ich habe in Potsdam studiert. Ich mag das Wasser, die Parks. Mit meinem Fahrrad auf dem Weg zu meiner Schreibstube fahre ich ausschließlich durch Parks. Das gefällt mir. Als Autorin sehe ich mich aber vor einem größeren Horizont. Wenn man „Potsdamer Autorin“ auf das Schreiben bezieht, hat das etwas lokal Begrenztes – da muss ich dann sagen: Nein.

Sie haben in den 2000er-Jahren Kolumnen für diese Zeitung geschrieben. Einmal stand da der Satz: „Ich bin stolz auf mein Land“. Gemeint war Brandenburg. Können Sie sich daran erinnern?
Habe ich das im Zusammenhang mit dem Paritätsgesetz gesagt, das Brandenburg als erstes Land einführte?

Der Text stammt schon aus dem Wahljahr 2009. In Potsdam hingen überall Plakate, auf denen sich Frauen zur Wahl stellten, „ein echtes Statement“, schrieben Sie. Können Sie mit Lokalpatriotismus etwas anfangen oder geht das nur im Kleid der Ironie?
Ich kann etwas anfangen mit einer Liebe zu einer Landschaft. Ich kann sagen: Mir gefällt an einer Stadt dieses und jenes. Patriotismus dagegen ist mir fremd, dafür fehlt mir der Ernst – und das Verständnis, was das überhaupt sein soll. Der Zufall der Geburt löst bei mir kein Gefühl des Stolzes aus.

Und dieser Zufall wollte es, dass Sie in Potsdam geboren wurden. Wie kam das?
Meine Eltern wohnten damals in Ludwigsfelde, Kreis Zossen. Damals bestimmte die Partei, wo ein Kind geboren werden sollte. Meine Mutter hätte ins Kreiskrankenhaus Zossen gemusst. Aber die SED hatte nicht mit der Aufsässigkeit meiner Mutter gerechnet. Sie wollte ihr Kind nicht in einem lumpigen Kreiskrankenhaus zur Welt bringen, und hat durchgesetzt, dass sie ins Bezirkskrankenhaus Potsdam kam.

Ihre Kindheit verbrachten Sie in Ludwigsfelde. Welche Rolle spielte Potsdam?
Ludwigsfelde besteht mehr oder weniger aus Plattenbausiedlungen. Einige neue, andere älter. Nicht unbedingt schön fürs Auge. Potsdam war das Gegenbild. Da war Schönheit. Verspieltheit. Die Schlösser, die mit ihren unterschiedlichen Baustilen andere Gegenden, andere Zeiten wachrufen. Jeder Ausflug nach Potsdam war eine kleine Reise über die Grenzen hinaus, bis nach Italien. Potsdam verdeutlichte, dass es noch etwas anderes als sozialistische Zweckbauten gibt.

Potsdam verdeutlichte, dass es noch etwas anderes als sozialistische Zweckbauten gibt.

Antje Rávik Strubel

Später zogen Sie zum Studium her.
Aber nur für ein Jahr. Damals wohnte ich in Golm in dem damals noch originalgetreuen Wohnheim der Stasihochschule. Auf meiner Liege hatten vor kurzem noch Stasi-Offiziere geschlafen. Wie unheimlich das war, fiel mir glücklicherweise erst im Nachhinein auf. Für die restlichen Jahre meines Studiums wohnte ich in Berlin und bin gependelt, wie die meisten Studierenden vermutlich heute noch. Erst 2006 zog ich dann richtig nach Potsdam.

Die Angstschweiß ausdünstenden Matratzen aus Golm kommen in „Blaue Frau“ kurz vor. Inwiefern ist auch dieser Ort, der Stasi-Mief, symptomatisch für Potsdam?
Das ist die dunkle Seite. Wenn ich durch den Park Babelsberg gehe, muss ich oft daran denken, dass es dort eine rote Hochschule gab und ein Teil des Parks für uns gesperrt war. Die schicken Villen der Nauener Vorstadt gehörten vor nicht langer Zeit zur sogenannten verbotenen Stadt. Diese dunkle Seite ist noch präsent, auch wenn man versucht, sie wegzutünchen. Als Kind war mir das natürlich nicht bewusst, erst mit 14, 15, als mir klar wurde, dass die Mauer quasi mitten durch die Havel ging.

Und wie geht es Ihnen heute damit, wenn ein Ministerpräsident Woidke Sie zur Botschafterin des Landes Brandenburg ernennt? Wollen Sie das sein?
Herr Woidke hat mir sehr freundlich zum Preis gratuliert und mir geschrieben, wie schön es sei, dass ich ein Brandenburger Kopf bin. (lacht) Die Politik vereinnahmt einen natürlich für dieses und jenes, aber solange wir uns in keiner Diktatur befinden, ist das meistens harmlos. Nur habe ich dummerweise ja einen Roman geschrieben, der in Helsinki und in Tschechien spielt. Und das Kapitel in der Uckermark eignet sich wirklich nicht, um für Brandenburg zu werben. Aber klar, die „Gebrauchsanweisung für Brandenburg“ lässt sich auch als Botschaft lesen. Allerdings als ironische.

Herr Woidke hat mir sehr freundlich zum Preis gratuliert und mir geschrieben, wie schön es sei, dass ich ein Brandenburger Kopf bin.

Antje Rávik Strubel

Brandenburg hat immer mal wieder Eingang gefunden in Ihr Schreiben. In „Blaue Frau“ spielt ausgerechnet das düsterste Kapitel in der Uckermark. Das kann doch kein Zufall sein?
Heute müsste ich mir einen anderen Ort suchen, heute zieht ja halb Berlin in die Uckermark! 2006 war die Lage noch anders. Ein übersehener Landstrich. Und wenn man sich die Geschichte anschaut, fällt auf, dass im brandenburgischen Karnickelsand die schlimmsten Kriege ausgetragen wurden, nirgendwo sonst gibt es soviele militärische Hinterlassenschaften. Das schreibt sich ein. Das führt zu einer Härte, auch einer Lebenshärte. Was diesem Landstrich jahrhundertelang angetan wurde, hat sich auch in die Menschen und in die Mentalitäten eingeschrieben.

In das Verbrechen in der Uckermark, eine Vergewaltigung, mischt sich ein Vergehen des Westens am Osten. Hätte das Kapitel auch woanders spielen können?
Nein. Auch wenn das Verbrechen nicht von diesem Ort kommt, sondern dorthin getragen wird. Ein westdeutscher Kulturfunktionär, der zu Besuch ist, vergeht sich an Adina. Und Razvan Stein, der in der Uckermark aufgewachsen ist, wird aufgrund seiner Abhängigkeit von diesem Westdeutschen zum Mittäter. Steins Schwäche hat mit seiner Vergangenheit, seiner Ostbiografie, zu tun. Dieses ungleiche Machtverhältnis ist symptomatisch für die Gegebenheiten in Ostdeutschland noch Jahre nach der Wende. Steins Abhängigkeit wird durch die Kargheit und Verlorenheit des Ortes nur umso größer.

Die Abhängigkeit von Mitteln, von Geld von außerhalb?
Ja. Von Fördermitteln. Vom Bund, von der EU. Johann Manfred Bengel hat die Beziehungen, er weiß, wie es geht. Er reitet dort ein wie der neue Feudalherr, will das Land in Besitz nehmen, seine Fahne einpflanzen. Aus dieser Gemengelage ergibt sich das Verbrechen: westdeutsche Übergriffigkeit, ostdeutsche Abhängigkeit und männliches Machtgebaren.

Der westdeutsche Kulturattaché Bengel reitet ein wie der Retter in der Not und nimmt sich, was und wen er kriegen kann, ohne zu fragen.
Ihn interessieren nur seine eigenen Bilder im Kopf. Dieses Vorgehen spiegelt sich auch auf einer größeren europäischen Ebene. Der Este Leonides erzählt von seinem Urgroßvater, der neben dem Pferd eines deutschen Großgrundbesitzers hergelaufen ist und den Hut in der Hand gehalten hat. So ähnlich ist das Verhältnis zwischen Ost- und Westeuropa auch heute, sagt er. Das innerdeutsche Verhältnis spiegelt sich im europäischen.

Was diese Männer auch gemeinsam haben: Sie geben Adina, der Hauptfigur, eigene Namen – weil sie sich den echten nicht merken können oder wollen.
Das Absurde an einem Typen wie Bengel ist, dass er auf alles, was „ost“ ist, abfährt – wobei es nur seine eigenen, furchtbar stereotypen Bilder sind, auf die er abfährt. Das ist bezeichnend für eine Mentalität, die ich häufig beobachtet habe. Im Übrigen auch in einigen Reaktionen auf den Roman „Blaue Frau“, wenn etwa die Rede davon ist, dass Bengel eine klischeehafte Figur sei. Da kann ich nur sagen: Redet ihr da nicht vielmehr über die Klischees in eurem eigenen Kopf?

Gegen solche Klischees und Einengungen sind Sie allergisch. Gilt das auch für das Label „ostdeutsch“? Sie haben sich lange dagegen verwehrt, kürzlich sprachen Sie aber wieder von „Wir Ostdeutschen“.
Das ist kontextabhängig. Ich kann Labels nicht leiden, wenn Sie da stehen wie große Markierungspfeiler, als wäre damit alles klar. Du bist eine Ostdeutsche, Punkt. Wenn ich aber Probleme beschreibe, die auf unterschiedlichen Erfahrungen in Ost und West beruhen, kann ich durchaus „Wir“ sagen. Ich bin Teil einer bestimmten Erfahrungswelt. Aber eben nicht nur dieser einen. In mir kreuzen sich die unterschiedlichsten Erfahrungen. Das Problem ist, dass solche Labels oft das Ende des Gesprächs sind, obwohl eigentlich noch gar nichts gesagt ist.

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„Als ostdeutsche Autorin zu gelten war fad“, steht in „Blaue Frau“. Das bezieht sich auf eine Zeit, die zwanzig Jahre her ist. Heute ist es nicht mehr fad?
Die Labels ändern sich glücklicherweise immer mal wieder. Heute reden wir verstärkt über Diversität. Das Ostdeutsche spielt nur noch eine untergeordnete Rolle, öffnet sich damit aber differenzierteren Auseinandersetzungen. Heute bin ich eher die queere Autorin, mal sehen, was morgen angesagt ist. Irgendwann hat man so viele Labels auf sich vereint, dass sie sich gegenseitig auslöschen. Und damit bedeutungslos werden.

Jenseits neuer Labels wie „queer“: Gibt es nicht ein neues Interesse am Ostdeutschsein?
Der Zugang ist auf jeden Fall entspannter. Das hat auch mit der jungen Generation zu tun, die die DDR nicht mehr erlebt hat, aber für sich entdecken will, weil die Eltern und Großeltern sie erfahren haben. Die haben einen anderen, unbefangenen Blick. Außerdem ist die deutsche Gesellschaft insgesamt vielfältiger geworden. Die Ostdeutschen sind nicht mehr wie vor zwanzig Jahren noch die einzigen „Anderen“, über die man spricht.

Heute bin ich eher die queere Autorin, mal sehen, was morgen angesagt ist.

Antje Rávik Strubel

Sie selbst waren in den letzten zwanzig Jahren viel in der Welt unterwegs. New York, Schweden, Kalifornien. Verändert das auch den Blick auf den Osten?
Mein eigener Blick ändert sich sowieso ständig. Und aus der Ferne sieht man immer besser. Die Distanz macht das Eigene zugleich unwichtiger und schärfer. In Kalifornien, dem westlichsten Westen, wird die Tatsache, aus dem wilden Osten zu kommen, zu einer skurrilen Anekdote.

Ist die rätselhafte Figur der blauen Frau im Roman auch der Versuch, eine Art dritten Ort zu erfinden, um den verschiedenen, einengenden Zuschreibungen von außen zu entkommen? Man weiß bis zum Ende nicht, wer sie ist.
Schwer zu sagen. Aber das war nicht mein Gedanke, glaube ich.

Sondern?
Die blaue Frau ist für mich recht einfach zu verstehen. Sie ist eine konkrete Stimme, die mich beim Schreiben begleitet hat. Die mir die Möglichkeit gegeben hat, meine eigene Position zu klären: Warum erzähle ich ausgerechnet diese Geschichte? Die blaue Frau ermöglicht mir, zu fragen: Was haben Adina, Estland, Finnland, der europäische Horizont eigentlich mit mir zu tun? Da komme ich schnell auf das innerdeutsche Verhältnis zurück. Und wer weiß; vielleicht ist dieser dritte Ort, den Sie gerade erwähnten, ja der Helsinkier Seglerhafen, in dem mir die blaue Frau begegnet.

Ihre Dankesrede zum Buchpreis haben Sie genutzt, um gesellschaftspolitisch Position zu beziehen. Was bedeutet Ihnen der Preis?
Zum einen ist er eine Anerkennung für meine Arbeit. Zum anderen macht er mich noch stärker zu einer öffentlichen Person. Alles, was ich sage, wirkt jetzt wie an einen Verstärker angeschlossen. Damit geht eine Verantwortung einher. Ich habe die Möglichkeit, mich für Dinge einzusetzen, die mir wichtig sind. Ein Beispiel ist die verkorkste Gender-Debatte.

Warum ist die Gender-Debatte verkorst? Festgefahren?
Wir kommen, das wird oft vergessen, aus mehr als 2000 Jahren einer zutiefst gegenderten Gesellschaft und sind auf dem Weg, das Korsett dieser Zweigeschlechtlichkeit aufzusprengen, die immer auf dem Ein- und Ausschließen basiert. Eine Gruppe hatte das Sagen und die Meinungshoheit auf Kosten aller anderen. Klar, ist es unangenehm, etwas von seiner Meinungshoheit, von seiner Macht abgeben zu müssen. Das ist aber kein Grund, das Ende der Meinungsfreiheit auszurufen. Damit redet man den Feinden der demokratischen Gesellschaft das Wort.

Das Gespräch führte Lena Schneider

Lesung und Gespräch mit Antje Rávik Strubel am 29.11., 20 Uhr, in der Villa Quandt, Große Weinmeisterstr. 46/47. Am 30. 11. um 19 Uhr ist sie im Literaturforum im Berliner Brecht-Haus, Chausseestraße 125.

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