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Dorothee Oberlinger ist Flötistin und seit 2018 Leiterin der Musikfestspiele Potsdam Sanssouci.

© Stefan Gloede

Interview | Musikfestspielleiterin Dorothee Oberlinger: „2022 sind wir alle reif für die Insel“

Erneut heißt es für die Musikfestspiele Potsdam Sanssouci: abgesagt. Künstlerische Leiterin Dorothee Oberlinger über Konzertstreams, die Misere der Selbstständigen und Ironie als Zuflucht.

Frau Oberlinger, zum zweiten Mal in Folge wurden die Musikfestspiele Potsdam Sanssouci abgesagt. Wie groß ist die Enttäuschung, im Jahr des 30. Jubiläums?

Man muss wirklich aufpassen, dass man nicht deprimiert wird von der Situation. Für die Künstler ist die Situation ganz schlimm. Sie haben seit einem Jahr quasi keine Arbeit. Die meisten sind Soloselbstständige, keine Festangestellten, und schlagen sich mit Überbrückungshilfen und Arbeitslosengeld herum. Viele sind in sehr prekären Situationen gelandet. Man hat totale Scheu, es den Künstlern mitzuteilen, dass es schon wieder nicht klappt. 

Und das Publikum?

Das hatte uns nach der letzten Absage stark die Stange gehalten. Letztes Jahr dachten wir ja: Nächstes Jahr können wir das gleiche Programm wieder spielen. Die Karten, die schon verkauft waren, wurden kaum zurückgegeben. Die Leute hatten Vertrauen.

Siebzig Prozent der Karten waren bereits verkauft worden.

Ja, es war ein sehr guter Verkauf. Das Publikum ist jetzt auch langsam ziemlich gebeutelt. Sollte es - hoffentlich - nächstes Jahr wieder stattfinden, haben die Leute drei Jahre keine Festspiele gehabt.

Vor einem Jahr sagten Sie: Der Heißhunger wird umso größer sein, wenn es wieder losgeht. Haben Sie jetzt die Befürchtung, dass die Leute wegbleiben?

Dass die Leute sagen: Es geht ja auch ohne? Das ist tatsächlich eine Gefahr. Man kann das schlecht einschätzen. Es ist vielleicht auch eine Frage der Kommunikation, wie wir die Absage jetzt vermitteln - und was vielleicht an hybriden oder digitalen Varianten noch möglich sein wird. 

Das kann das direkte Liveerlebnis natürlich nicht ersetzen. An den Testreihen in Berlin konnte man sehen: Die Karten für Veranstaltungen, für die man sich vorher testen lassen musste, waren in kurzer Zeit komplett ausverkauft. Da hat man gesehen, dass der Kulturhunger groß ist. Und im Moment glaube ich, dass es auch erst einmal so bleiben wird.

„Wieder alles flöten gegangen“ war die Pressemitteilung zur diesjährigen Absage überschrieben. Hilft jetzt nur noch Ironie?

Da steckte Enttäuschung drin, klar. Dass abgesagt wurde, war ja nicht unsere Entscheidung, sondern die der Stadt. Wir haben alternative Konzepte vorgelegt und daran lange gearbeitet. Ein Konzept hatte Teststrategien und sehr viel Open-Air-Anteil mit Abstand und Maske vorgesehen. Man weiß aus den Teststrecken, dass Konzertsäle zu den sichersten Orten gehören. 

Die Argumentation war dann, dass sich die Leute auch zu den Orten hinbewegen müssen – und dass darin ein Gefahrenpotenzial liegt. Wir sind in der Kultur natürlich auch Statthalter für eine große Gruppe, deren Bewegungsradius man versucht einzudämmen, um die Zahlen herunterzubekommen. In NRW gibt es auch in den Grundschulen nur Distanzunterricht.

Sie haben dennoch Verständnis für die Entscheidung der Stadt Potsdam?

Ja, ich kann es verstehen. Steigende Infektionszahlen und Eindämmungen in allen Bereichen, das ist die Tendenz. Man muss aber auch dazusagen, dass es Länder gibt, die andere Wege wählen. Ich komme gerade von einem Konzert in Sevilla. Da haben sie nie aufgehört zu spielen. Auch in Madrid in den Opernhäusern gab es einfach eine 50-Prozent-Belegung. Jede Politik geht anders damit um. Ich bin keine Virologin und kann das nicht beurteilen. Ich hätte einen harten Lockdown beizeiten auch gut gefunden. Alle wollen wir im Moment mitreden, obwohl wir nicht vom Fach sind!

Die Plakate für das Festival 2021 hängen bereits überall in der Stadt. Sie wurden jetzt mit Graffiti-Tags überzogen. Anarchie als Versuch, mit dem Frust umzugehen?

Schon. Wir haben eine humorvolle Kampagne gehabt, mit großem Augenzwinkern. Wir wollten diesen Stil beibehalten. Wir haben einen professionellen Sprayer beauftragt, der dann händisch die einzelnen Plakate übermalt hat. Man muss ja auch in diesen Tagen etwas zum Schmunzeln haben – auch wenn der Inhalt eigentlich nicht so lustig ist.

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Interessant: Die Kampagne rückt klassische Musik ins Reich der Subversion.

Es ist vielleicht gar nicht schlecht, dass man aus seinem Dornröschenschlaf erwacht. Die Kultur wurde ja zu Beginn des Lockdowns in einer Reihe mit Bordellen und Spielkasinos genannt. Das wurde jetzt abgeändert, aber der Schock war erst einmal groß, wo man eigentlich gesehen wird. Da wurde uns klar, wir müssen erst einmal deutlich machen, wer wir eigentlich sind und wo wir stehen. Wir organisierten uns im Forum Musik Festivals und merkten, dass ein Sprachrohr bei der Politik dringend nötig ist. Dass man mehr kommuniziert, auch wenn wir im Moment in Distanz sind.

Mehr Kommunikation – wäre das eine Lektion der letzten dreizehn Monate für Sie?

Ja, das ist so wichtig. Zum einen das emotionale Moment, dass sonst in der Musik steckt, womit wir die Leute erreichen und berühren, jetzt auf anderen Kanälen erreicht werden muss. Falls wir etwas Hybrides hinbekommen, ist es uns auch sehr wichtig, dass das Interaktive Formate sind. Dass man vielfältig in Austausch mit den Künstlern treten kann. Dass man das Gute aus dieser digitalen Welt mitnimmt. 

„Gestreamte Konzerte vereinen das Schlechteste aus beiden Welten“, sagte neulich auch Anna Prohaska. Ich als Künstler brauche Adrenalin, und den bekomme ich durch den Dialog mit dem Publikum – das ist im Stream weg. Und wenn ich eine tolle Aufnahme mache, dann schleife ich daran mit mehreren Takes, bis das richtig sitzt.  

Sie als Musikerin spielen ohne Publikum auch anders?

Ja. Das kommt vom Adrenalin, denke ich. Das dazu führt, dass man mehr auf die Kante bringt, mehr wagt. Gehe ich ein Risiko ein oder schaffe ich nur 80 Prozent zu geben, weil mir die Spannung fehlt? Dieses Bewusstsein, was einen auch Künstler sein lässt, dieses Ich-will-diesen-Nervenkitzel-immer-wieder ist auch so eine Erkenntnis der letzten Monate. 

Was muss passieren, damit Künstler:innen in der Pandemie nicht aufgeben?

Wenn man gezwungen ist, sich mit den ganzen Förderungen auseinanderzusetzen und bekommt am Ende ein paar Euro – manchmal sind das wirklich marginale Summen: Was ist das für eine Perspektive? 

Die Leute müssen zudem an ihre Ersparnisse gehen, obwohl sie später keine Rente bekommen werden. Sie haben auch Familie, müssen Kinder ins Studium bringen. Da wird mit Selbstständigen anders umgegangen als mit Angestellten. Und dann kommt irgendwann der Punkt, wo das nicht mehr möglich ist. Viele schaffen das psychisch und finanziell nicht. Ich habe von einigen gehört, die beruflich umsatteln.

Vor einem Jahr war es von Festivalseite möglich, den selbstständigen Künstlern unter die Arme zu greifen – die Hälfte des Honorars wurde vorab gezahlt. Und jetzt?

Wir haben den Künstlern im vergangenen Jahr für die Verschiebung auf 2021 einen Bonus gegeben, das war unser erster Griff unter die Arme. Bereits geleistete Arbeit wird honoriert werden, das steht für uns außer Frage. 

Was bleibt von dem Programm für 2021? Kann irgendetwas gerettet werden?

Das ist die Hoffnung. Wir arbeiten gerade an neuen Konzepten, die wir noch abstimmen müssen. Vielleicht manches sogar wirklich vor kleinem Publikum. Das ist aber eine Sache, die sich erst im allerletzten Moment entscheiden wird. Und was das Hybride betrifft: Für die Oper „Pastorelle en musique“ gibt es schon die Kostüme und das Bühnenbild, es wurde bereits geprobt und es stehen Folgeaufführungen in Bayreuth, Innsbruck und Magdeburg auf dem Plan. Daher ist uns sehr daran gelegen, dass das stattfinden wird. Notfalls digital.

Und die Begleitprogramme? Das geplante Fest auf dem Luisenplatz?

Vielleicht kann man etwas retten. Auf dem Luisenplatz wollten wir die Brandenburgischen Konzerte, die 300. Jubiläum haben, spielen - was sehr gut zu unserem 30-Jahr-Jubiläum passt. Wir sind eine Kooperation mit der Jungen Philharmonie Brandenburg eingegangen, um sie an die Barockmusik und die historische Spielweise heranzubringen. 

Insofern gibt es vielleicht noch so etwas wie eine kleine digitale Geburtstagsfeier. Das Fahrradkonzert kann hybrid stattfinden - mit digitaler Information und dem eigenen Fahrrad. Und dann hoffen wir darauf, dass der Spuk im nächsten Jahr vorbei ist.

Planerisch sind Sie längst in der kommenden Saison. Was haben Sie 2022 vor?

Es wird thematisch um „Inseln“ gehen – mythische Inseln, reale Inseln, Potsdam als Insel. Das ist ein Thema mit unglaublich vielen Facetten. Ich glaube, dass das ganz gut in die Zeit passen wird. Denn, auch falls wir wieder spielen dürfen, sind wir dann alle reif für die Insel.

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