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Interview mit Thomas Gerwin: „Die Stimme ist das tollste Instrument“

Thomas Gerwin, Leiter des heute beginnenden Festivals Intersonanzen, über klingende Kunst.

Herr Gerwin, das Brandenburgische Festival für Neue Musik findet in diesem Jahr erstmalig im Mai und nicht wie sonst immer im November statt. Warum?

Wir wollten eine eigene Zeit für die Intersonanzen finden. Im Herbst finden ganz viele Veranstaltungen statt, auch in Berlin. Der andere Grund ist, dass das Wetter im Mai wunderschön ist – und wir wollen ja auch nach draußen gehen. Neu ist auch, dass das Festival über zehn Tage geht. So gibt es ein bisschen mehr Luft zwischen den insgesamt 14 Konzerten. Man kann besser ins Gespräch kommen oder sich die Klangkunstwerke anschauen.

Im Vorwort des Programms steht ein Zitat: „Das gelungene Kunstwerk überzeugt, obwohl und indem es fremd ist.“ Wie ist das zu verstehen?

Die Neue Musik mit großem N ist in einem bestimmten historischen Kontext nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden. Die Künstler damals wollten keine Emotionen und keine Narrationen mit der Musik transportieren, sondern ganz bewusst nur tönend bewegte Formen für den Intellekt produzieren.

Aber wir haben ja jetzt 2018. Was hat das Zitat heute noch für eine Bedeutung?

Heute leben wir in einer ganz spannenden Zeit mit sehr vielen unterschiedlichen Strömungen. Da ist es unsere Aufgabe als Festival, möglichst viele Sachen zu zeigen. Wir möchten auch gegen das Image der Neuen Musik angehen – und gegen die Vorurteile, die ihr immer wieder entgegentreten.

Was heißt das?

Für mich ist Musik kein Teil der Darstellenden Künste, sondern eine eigene Kunstform, die sich primär klingend ausdrückt, durch die Gestaltung von Klang.

Das hat Musik ja eigentlich schon immer gemacht.

Ja, das stimmt, aber ich meine damit, dass nicht etwas dargestellt wird, sondern etwas mit Klang hergestellt wird, wie zum Beispiel eine Situation mit Flöten auf einem Feld, die vom Wind gespielt werden. Deshalb schlage ich den Begriff Klingende Kunst vor als Übergriff für jede Kunst, die sich primär durch Klang ausdrückt.

Was macht dann die Musik aus?

Musik ist ein Teil der klingenden Kunst. Sie ist eine besondere Möglichkeit Klänge zu produzieren und zu rezipieren – zum Beispiel in Noten aufgeschrieben und dann von Musikern interpretiert oder im Konzertsaal. Aber es gibt auch viele andere Formen, wie Soundlandschaften, durch die ich wandern kann oder Klangobjekte, die man interaktiv bedienen kann wie zum Beispiel mein Fühlklavier.

Wollen Sie weg von den Ausdrucksfunktionen der Musik?

Nein, Musik, die ganze klingende Kunst, kann und darf natürlich ausdrucksstark sein. Der Punkt ist, dass es verschiedene Arten gibt, wie man Klang gestalten kann. Das kann eine Symphonie sein, das muss aber nicht nur im Konzertsaal sein, das kann draußen sein, oder im Internet.

Aber trotzdem gelten die Regeln der Neuen Musik noch – zum Beispiel keine Melodien, keine Tonalität, keine festen Rhythmen?

Nein, davon will ich weg. Ich will nichts verbieten. Die Frage ist: Ist was ich höre interessant, ist es besonders? Deshalb benutze ich den Begriff des Fremdartigen. Es geht auch darum, dass es etwas Aktuelles ist und etwas aus dem Experimentierlabor der Klänge.

Wollen Sie der Musik wieder einen besonderen Stellenwert geben, jenseits von Unterhaltung und Untermalung?

Ja, das kann man so sagen. Insofern ist es schon eine ernste Musik. Ich möchte die Musik würdigen.

In der Neuen Musik war ja der Vortrag der menschlichen Stimme bisher nicht so wichtig. Warum steht dieses Jahr die menschliche Stimme im Vordergrund?

Die Stimme ist natürlich nach wie vor das tollste Instrument. Weder ein ganzes Orchester noch Elektronik kommt an die Ausdrucksstärke und die Nuancen der menschlichen Stimme heran. Es gibt auch einige Vokalwerke der Neuen Musik, wie etwa das berühmte Stück Maulwerke des leider kürzlich verstorbenen Dieter Schnebel, das wir in einer neuen Version aufführen werden. Dafür kommt das experimentelle Gesangsensemble die Maulwerker. Dann tritt der Gemischte Chor aus Strausberg auf und das Ensemble Vox Nostra. Als Solistin kommt die Sopranistin Katia Guedes, eine Spezialistin für modernen Gesang und auch Alex Nowitz.

Welches Konzept verfolgen Sie darüber hinaus? Was haben Sie noch vor?

Wir wollen ganz unterschiedliche Dinge zeigen, große Besetzungen, Solovortrag, verrückte Instrumentierungen. Werke von zeitgenössischen Komponisten aus Brandenburg finden sich neben Klassikern der Neuen Musik wie Luciano Berio, Morton Feldman und Alvin Lucier. Es gibt aber auch mittelalterliche Werke von Hildegard von Bingen und Magister Pérotin zu hören. Ganz besonders freue ich mich, dass das Moscow Contemporary Music Ensemble ein Werk des Komponisten Helmut Zapf bei uns uraufführen wird, für das er 2017 das Interstip des Landes Brandenburg bekommen hat.

An wen richtet sich das Festival?

Jeder ist willkommen. Wir wollen einen direkten Zugang zu den Hörern finden. So gibt es zu jedem Konzert Gespräche sowie eine Ausstellung mit Partituren. Dazwischen stehen noch ein paar Klangkunstwerke, denn wir bespielen das gesamte Kunsthaus sans titre. Es gibt auch wieder einen Klangspaziergang durch Potsdam unter der Leitung von Michael Schenk.

Die Fragen stellte Babette Kaiserkern

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Die Intersonanzen, Brandenburgisches Fest der Neuen Musik, eröffnen heute um 19 Uhr im Kunsthaus sans titre, Französische Str. 18. Bis zum 3. Juni sind zahlreiche Konzerte im und am Kunsthaus zu erleben

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Thomas Gerwin, geboren 1955 in Kassel, ist Komponist, Klangkünstler, Kurator und Musikwissenschaftler. Seit 2017 ist er künstlerischer Leiter des Neue-Musik-Festivals „Intersonanzen“.

Babette Kaiserkern

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